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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
Lucius Valerius Flaccus der jüngere ein Schuldgesetz, das jede
Privatforderung auf den vierten Theil ihres Nominalbetrags her-
absetzte und drei Viertel zu Gunsten der Schuldner cassirte.
Man ernannte Censoren (668) um sämmtliche Italiker in die fünf-
unddreissig Bürgerbezirke zu vertheilen -- eine seltsame Fügung
dabei war es, dass in Folge des Mangels von fähigen Candidaten
zur Censur derselbe Philippus, der als Consul 663 hauptsäch-
lich den Plan des Drusus den Italikern das Stimmrecht zu verlei-
hen hatte scheitern machen (S. 204), jetzt als Censor sie in die
Bürgerrollen einzuschreiben ausersehen ward. In gleicher Weise
wurde der Senat veranlasst den Italikern und den Freigelassenen
das volle und gleiche Stimmrecht noch einmal zu bestätigen
(670); wogegen es sich nicht findet, dass man sich die Mühe
gab die Bürgerschaft in dieser Angelegenheit zu fragen. Diese
Massregeln aber, die einzigen constitutiven während des ganzen
cinnanischen Regiments, sind ohne Ausnahme vom Augenblick
dictirt; es liegt -- und vielleicht ist dies das Entsetzlichste bei
dieser ganzen Katastrophe -- derselben nicht etwa ein verkehr-
ter, sondern gar kein politischer Plan zu Grunde. Man liebkoste
den Pöbel und verletzte ihn zugleich in höchst unnöthiger Weise
durch zwecklose Missachtung der verfassungsmässigen Formen.
Man konnte an der Capitalistenpartei einen Halt finden und schä-
digte sie aufs Empfindlichste durch das Schuldgesetz. Die eigent-
liche Stütze des Regiments waren -- durchaus ohne dessen Zu-
thun -- die Neubürger; man liess sich ihren Beistand gefallen,
aber es geschah nichts um die seltsame Stellung der Samniten
zu regeln, die dem Namen nach jetzt römische Bürger waren,
aber offenbar thatsächlich ihre landschaftliche Unabhängigkeit als
den eigentlichen Zweck und Preis des Kampfes betrachteten und
diese gegen all und jeden zu vertheidigen in Waffen blieben.
Man schlug die angesehenen Senatoren todt wie tolle Hunde;
aber nicht das geringste ward gethan um den Senat im Interesse
der Regierung zu reorganisiren oder dauernd zu terrorisiren; so
dass dieselbe auch seiner keineswegs sicher war. So hatte Gaius
Gracchus den Sturz der Oligarchie nicht verstanden, dass der
neue Herr sich auf seinem selbstgeschaffenen Thron verhalten
könne, wie es legitime Nullkönige zu thun belieben. Aber diesen
Cinna hatte nicht sein Wollen, sondern der reine Zufall emporge-
tragen; war es ein Wunder, dass er blieb, wo die Sturmfluth der
Revolution ihn hingespült hatte, bis eine zweite Sturmfluth kam
ihn wieder fortzuschwemmen?

VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
Lucius Valerius Flaccus der jüngere ein Schuldgesetz, das jede
Privatforderung auf den vierten Theil ihres Nominalbetrags her-
absetzte und drei Viertel zu Gunsten der Schuldner cassirte.
Man ernannte Censoren (668) um sämmtliche Italiker in die fünf-
unddreiſsig Bürgerbezirke zu vertheilen — eine seltsame Fügung
dabei war es, daſs in Folge des Mangels von fähigen Candidaten
zur Censur derselbe Philippus, der als Consul 663 hauptsäch-
lich den Plan des Drusus den Italikern das Stimmrecht zu verlei-
hen hatte scheitern machen (S. 204), jetzt als Censor sie in die
Bürgerrollen einzuschreiben ausersehen ward. In gleicher Weise
wurde der Senat veranlaſst den Italikern und den Freigelassenen
das volle und gleiche Stimmrecht noch einmal zu bestätigen
(670); wogegen es sich nicht findet, daſs man sich die Mühe
gab die Bürgerschaft in dieser Angelegenheit zu fragen. Diese
Maſsregeln aber, die einzigen constitutiven während des ganzen
cinnanischen Regiments, sind ohne Ausnahme vom Augenblick
dictirt; es liegt — und vielleicht ist dies das Entsetzlichste bei
dieser ganzen Katastrophe — derselben nicht etwa ein verkehr-
ter, sondern gar kein politischer Plan zu Grunde. Man liebkoste
den Pöbel und verletzte ihn zugleich in höchst unnöthiger Weise
durch zwecklose Miſsachtung der verfassungsmäſsigen Formen.
Man konnte an der Capitalistenpartei einen Halt finden und schä-
digte sie aufs Empfindlichste durch das Schuldgesetz. Die eigent-
liche Stütze des Regiments waren — durchaus ohne dessen Zu-
thun — die Neubürger; man lieſs sich ihren Beistand gefallen,
aber es geschah nichts um die seltsame Stellung der Samniten
zu regeln, die dem Namen nach jetzt römische Bürger waren,
aber offenbar thatsächlich ihre landschaftliche Unabhängigkeit als
den eigentlichen Zweck und Preis des Kampfes betrachteten und
diese gegen all und jeden zu vertheidigen in Waffen blieben.
Man schlug die angesehenen Senatoren todt wie tolle Hunde;
aber nicht das geringste ward gethan um den Senat im Interesse
der Regierung zu reorganisiren oder dauernd zu terrorisiren; so
daſs dieselbe auch seiner keineswegs sicher war. So hatte Gaius
Gracchus den Sturz der Oligarchie nicht verstanden, daſs der
neue Herr sich auf seinem selbstgeschaffenen Thron verhalten
könne, wie es legitime Nullkönige zu thun belieben. Aber diesen
Cinna hatte nicht sein Wollen, sondern der reine Zufall emporge-
tragen; war es ein Wunder, daſs er blieb, wo die Sturmfluth der
Revolution ihn hingespült hatte, bis eine zweite Sturmfluth kam
ihn wieder fortzuschwemmen?

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[302/0312] VIERTES BUCH. KAPITEL IX. Lucius Valerius Flaccus der jüngere ein Schuldgesetz, das jede Privatforderung auf den vierten Theil ihres Nominalbetrags her- absetzte und drei Viertel zu Gunsten der Schuldner cassirte. Man ernannte Censoren (668) um sämmtliche Italiker in die fünf- unddreiſsig Bürgerbezirke zu vertheilen — eine seltsame Fügung dabei war es, daſs in Folge des Mangels von fähigen Candidaten zur Censur derselbe Philippus, der als Consul 663 hauptsäch- lich den Plan des Drusus den Italikern das Stimmrecht zu verlei- hen hatte scheitern machen (S. 204), jetzt als Censor sie in die Bürgerrollen einzuschreiben ausersehen ward. In gleicher Weise wurde der Senat veranlaſst den Italikern und den Freigelassenen das volle und gleiche Stimmrecht noch einmal zu bestätigen (670); wogegen es sich nicht findet, daſs man sich die Mühe gab die Bürgerschaft in dieser Angelegenheit zu fragen. Diese Maſsregeln aber, die einzigen constitutiven während des ganzen cinnanischen Regiments, sind ohne Ausnahme vom Augenblick dictirt; es liegt — und vielleicht ist dies das Entsetzlichste bei dieser ganzen Katastrophe — derselben nicht etwa ein verkehr- ter, sondern gar kein politischer Plan zu Grunde. Man liebkoste den Pöbel und verletzte ihn zugleich in höchst unnöthiger Weise durch zwecklose Miſsachtung der verfassungsmäſsigen Formen. Man konnte an der Capitalistenpartei einen Halt finden und schä- digte sie aufs Empfindlichste durch das Schuldgesetz. Die eigent- liche Stütze des Regiments waren — durchaus ohne dessen Zu- thun — die Neubürger; man lieſs sich ihren Beistand gefallen, aber es geschah nichts um die seltsame Stellung der Samniten zu regeln, die dem Namen nach jetzt römische Bürger waren, aber offenbar thatsächlich ihre landschaftliche Unabhängigkeit als den eigentlichen Zweck und Preis des Kampfes betrachteten und diese gegen all und jeden zu vertheidigen in Waffen blieben. Man schlug die angesehenen Senatoren todt wie tolle Hunde; aber nicht das geringste ward gethan um den Senat im Interesse der Regierung zu reorganisiren oder dauernd zu terrorisiren; so daſs dieselbe auch seiner keineswegs sicher war. So hatte Gaius Gracchus den Sturz der Oligarchie nicht verstanden, daſs der neue Herr sich auf seinem selbstgeschaffenen Thron verhalten könne, wie es legitime Nullkönige zu thun belieben. Aber diesen Cinna hatte nicht sein Wollen, sondern der reine Zufall emporge- tragen; war es ein Wunder, daſs er blieb, wo die Sturmfluth der Revolution ihn hingespült hatte, bis eine zweite Sturmfluth kam ihn wieder fortzuschwemmen?

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/312>, abgerufen am 22.11.2024.