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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL VIII.
der grossen Anzahl gleichartiger Sultane, ist seine grenzenlose
Rührigkeit. Eines schönen Morgens war er aus seiner Hofburg
verschwunden und blieb Monate lang verschollen, so dass man
ihn bereits verloren gab; als er zurückkam, hatte er unerkannt
ganz Vorderasien durchwandert und Land und Leute überall mi-
litärisch erkundet. Von gleicher Art ist es, dass er nicht bloss
überhaupt ein redefertiger Mann war, sondern auch den zwei-
undzwanzig Nationen, über die er gebot, jeder in ihrer Zunge
Recht sprach, ohne eines Dollmetschers zu bedürfen -- ein be-
zeichnender Zug für den regsamen Herrscher des sprachenrei-
chen Ostens. Denselben Charakter trägt seine ganze Regenten-
thätigkeit. So weit wir sie kennen -- denn von der inneren Ver-
waltung schweigt unsere Ueberlieferung leider durchaus -- geht
sie auf wie die eines jeden anderen Sultans im Sammeln von
Schätzen, im Zusammentreiben der Heere, die wenigstens in
seinen früheren Jahren gewöhnlich nicht der König selbst, son-
dern irgend ein griechischer Condottier gegen den Feind führt,
in dem Bestreben neue Satrapien zu den alten zu fügen; von hö-
heren Elementen, Förderung der Civilisation, ernstlicher Führer-
schaft der nationalen Opposition, eigenartiger Genialität finden sich,
in unserer Ueberlieferung wenigstens, bei Mithradates keine be-
wussten Spuren, und wir haben keinen Grund auch nur mit den
grossen Regenten der Osmanen, wie Muhamed II. und Suleiman
waren, ihn auf eine Linie zu stellen. Trotz der hellenischen Bil-
dung, die ihm nicht viel besser sitzt als seinen Kappadokiern die
römische Rüstung, ist er durchaus ein Orientale gemeinen Schlags,
roh, voll sinnlichster Begehrlichkeit, abergläubisch, grausam, treu-
und rücksichtslos, aber so kräftig organisirt, so gewaltig phy-
sisch begabt, dass sein trotziges Umsichschlagen, sein unver-
wüstlicher Widerstandsmuth häufig wie Talent, zuweilen sogar
wie Genie aussieht. Wenn man auch in Anschlag bringt, dass
nur die Verschlingung der asiatischen Ereignisse mit den inneren
Bewegungen Italiens es ihm möglich machte doppelt so lange als
Jugurtha den Römern zu widerstehen, so bleibt es darum doch
nicht minder wahr, dass bis auf die Partherkriege er der einzige
Feind ist, der im Osten den Römern ernstlich zu schaffen ge-
macht und dass er gegen sie sich gewehrt hat wie gegen den
Jäger der Löwe der Wüste. Aber nach dem was vorliegt sind wir
nicht berechtigt mehr als solchen naturkräftigen Widerstand
hier zu erkennen. -- Wie man aber auch über die Individualität
des Königs urtheilen möge, seine geschichtliche Stellung bleibt
in hohem Grade bedeutsam. Die mithradatischen Kriege sind zu-

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der groſsen Anzahl gleichartiger Sultane, ist seine grenzenlose
Rührigkeit. Eines schönen Morgens war er aus seiner Hofburg
verschwunden und blieb Monate lang verschollen, so daſs man
ihn bereits verloren gab; als er zurückkam, hatte er unerkannt
ganz Vorderasien durchwandert und Land und Leute überall mi-
litärisch erkundet. Von gleicher Art ist es, daſs er nicht bloſs
überhaupt ein redefertiger Mann war, sondern auch den zwei-
undzwanzig Nationen, über die er gebot, jeder in ihrer Zunge
Recht sprach, ohne eines Dollmetschers zu bedürfen — ein be-
zeichnender Zug für den regsamen Herrscher des sprachenrei-
chen Ostens. Denselben Charakter trägt seine ganze Regenten-
thätigkeit. So weit wir sie kennen — denn von der inneren Ver-
waltung schweigt unsere Ueberlieferung leider durchaus — geht
sie auf wie die eines jeden anderen Sultans im Sammeln von
Schätzen, im Zusammentreiben der Heere, die wenigstens in
seinen früheren Jahren gewöhnlich nicht der König selbst, son-
dern irgend ein griechischer Condottier gegen den Feind führt,
in dem Bestreben neue Satrapien zu den alten zu fügen; von hö-
heren Elementen, Förderung der Civilisation, ernstlicher Führer-
schaft der nationalen Opposition, eigenartiger Genialität finden sich,
in unserer Ueberlieferung wenigstens, bei Mithradates keine be-
wuſsten Spuren, und wir haben keinen Grund auch nur mit den
groſsen Regenten der Osmanen, wie Muhamed II. und Suleiman
waren, ihn auf eine Linie zu stellen. Trotz der hellenischen Bil-
dung, die ihm nicht viel besser sitzt als seinen Kappadokiern die
römische Rüstung, ist er durchaus ein Orientale gemeinen Schlags,
roh, voll sinnlichster Begehrlichkeit, abergläubisch, grausam, treu-
und rücksichtslos, aber so kräftig organisirt, so gewaltig phy-
sisch begabt, daſs sein trotziges Umsichschlagen, sein unver-
wüstlicher Widerstandsmuth häufig wie Talent, zuweilen sogar
wie Genie aussieht. Wenn man auch in Anschlag bringt, daſs
nur die Verschlingung der asiatischen Ereignisse mit den inneren
Bewegungen Italiens es ihm möglich machte doppelt so lange als
Jugurtha den Römern zu widerstehen, so bleibt es darum doch
nicht minder wahr, daſs bis auf die Partherkriege er der einzige
Feind ist, der im Osten den Römern ernstlich zu schaffen ge-
macht und daſs er gegen sie sich gewehrt hat wie gegen den
Jäger der Löwe der Wüste. Aber nach dem was vorliegt sind wir
nicht berechtigt mehr als solchen naturkräftigen Widerstand
hier zu erkennen. — Wie man aber auch über die Individualität
des Königs urtheilen möge, seine geschichtliche Stellung bleibt
in hohem Grade bedeutsam. Die mithradatischen Kriege sind zu-

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[258/0268] VIERTES BUCH. KAPITEL VIII. der groſsen Anzahl gleichartiger Sultane, ist seine grenzenlose Rührigkeit. Eines schönen Morgens war er aus seiner Hofburg verschwunden und blieb Monate lang verschollen, so daſs man ihn bereits verloren gab; als er zurückkam, hatte er unerkannt ganz Vorderasien durchwandert und Land und Leute überall mi- litärisch erkundet. Von gleicher Art ist es, daſs er nicht bloſs überhaupt ein redefertiger Mann war, sondern auch den zwei- undzwanzig Nationen, über die er gebot, jeder in ihrer Zunge Recht sprach, ohne eines Dollmetschers zu bedürfen — ein be- zeichnender Zug für den regsamen Herrscher des sprachenrei- chen Ostens. Denselben Charakter trägt seine ganze Regenten- thätigkeit. So weit wir sie kennen — denn von der inneren Ver- waltung schweigt unsere Ueberlieferung leider durchaus — geht sie auf wie die eines jeden anderen Sultans im Sammeln von Schätzen, im Zusammentreiben der Heere, die wenigstens in seinen früheren Jahren gewöhnlich nicht der König selbst, son- dern irgend ein griechischer Condottier gegen den Feind führt, in dem Bestreben neue Satrapien zu den alten zu fügen; von hö- heren Elementen, Förderung der Civilisation, ernstlicher Führer- schaft der nationalen Opposition, eigenartiger Genialität finden sich, in unserer Ueberlieferung wenigstens, bei Mithradates keine be- wuſsten Spuren, und wir haben keinen Grund auch nur mit den groſsen Regenten der Osmanen, wie Muhamed II. und Suleiman waren, ihn auf eine Linie zu stellen. Trotz der hellenischen Bil- dung, die ihm nicht viel besser sitzt als seinen Kappadokiern die römische Rüstung, ist er durchaus ein Orientale gemeinen Schlags, roh, voll sinnlichster Begehrlichkeit, abergläubisch, grausam, treu- und rücksichtslos, aber so kräftig organisirt, so gewaltig phy- sisch begabt, daſs sein trotziges Umsichschlagen, sein unver- wüstlicher Widerstandsmuth häufig wie Talent, zuweilen sogar wie Genie aussieht. Wenn man auch in Anschlag bringt, daſs nur die Verschlingung der asiatischen Ereignisse mit den inneren Bewegungen Italiens es ihm möglich machte doppelt so lange als Jugurtha den Römern zu widerstehen, so bleibt es darum doch nicht minder wahr, daſs bis auf die Partherkriege er der einzige Feind ist, der im Osten den Römern ernstlich zu schaffen ge- macht und daſs er gegen sie sich gewehrt hat wie gegen den Jäger der Löwe der Wüste. Aber nach dem was vorliegt sind wir nicht berechtigt mehr als solchen naturkräftigen Widerstand hier zu erkennen. — Wie man aber auch über die Individualität des Königs urtheilen möge, seine geschichtliche Stellung bleibt in hohem Grade bedeutsam. Die mithradatischen Kriege sind zu-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/268>, abgerufen am 25.11.2024.