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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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INNERE VERHAELTNISSE.
das heisst den Pontifices oblag. Dass die auf uns gekomme-
nen Fasten wohl lückenhaft und interpolirt sind, aber vom
Anfang dieser Periode an im Kerne ächt, lässt sich nicht be-
zweifeln; und von einzelnen Notizen kann dasselbe gelten.
Allein dass eine regelmässige Aufzeichnung der Jahresbegeben-
heiten erst viel später begonnen hat, oder wenn sie früher
begonnen hat, im gallischen Brande untergegangen ist, zeigen
vielfache Spuren; so wissen wir, dass die älteste in der Stadt-
chronik nach Beobachtung angegebene Sonnenfinsterniss die
ist vom Jahre 350 kurz vor dem gallischen Brande, dass die
gesühnten Prodigien sich erst seit Pyrrhos Zeit regelmässig
verzeichnet finden, und dass die Censuszahlen erst seit dem
Anfang des fünften Jahrhundert anfangen glaublich zu lauten
(S. 72. 282). Es ist sehr wahrscheinlich, dass im Schosse
des Collegiums, dem die Führung des Jahrbuchs oder der
Stadtchronik oblag, ein Menschenalter etwa nach dem galli-
schen Brande ein Versuch gemacht worden ist die zu Anfang
fehlende Geschichte der Königszeit wieder herzustellen und
den dürftigen Notizen aus den ersten Zeiten der Republik
eine tapfere Verbesserung angedeihen zu lassen. Wie man
dabei verfuhr, vermögen wir natürlich nicht zu bestimmen.
Familiensagen der adlichen Geschlechter und Historisirung der
Anfänge alter Volksinstitutionen lieferten wohl einen Theil des
Materials, wie zum Beispiel die Fabiergeschichten öfters er-
scheinen und die schöne Erzählung von den Horatiern und
Curiatiern die Entstehung der Provocation zu veranschaulichen
bestimmt ist. Küstererzählungen nach Art derjenigen, aus
denen die Mirabilia Urbis erwuchsen, erkennt man in den
Geschichtchen vom heiligen Feigenbaum und andern, die an
bestimmte Plätze und Reliquien anknüpfen. Bemerkenswerth
ist das Bestreben den Ursprung der Stadt an den troischen
Kreis, den der Staatsverfassung an die pythagoreische Ur-
weisheit anzulehnen; jene hat der an der latinischen Küste
weit früher localisirten Odysseussage die vom Aeneas substituirt,
diese die ächt nationalen Gestalten des Königs Numa und der
weisen Egeria durch die Einmischung eines politisirenden und
philosophirenden Ausländers getrübt. Diese hellenisirende
Tendenz der conventionellen Urgeschichte Roms macht es
wahrscheinlich, dass sie nicht vor der zweiten Hälfte des vier-
ten Jahrhunderts entstanden ist; jünger ist sie indess auch
nicht, denn schon Timaeos (402 - 498) ward die römische
Nostensage in Latium ungefähr ebenso berichtet wie wir sie

INNERE VERHAELTNISSE.
das heiſst den Pontifices oblag. Daſs die auf uns gekomme-
nen Fasten wohl lückenhaft und interpolirt sind, aber vom
Anfang dieser Periode an im Kerne ächt, läſst sich nicht be-
zweifeln; und von einzelnen Notizen kann dasselbe gelten.
Allein daſs eine regelmäſsige Aufzeichnung der Jahresbegeben-
heiten erst viel später begonnen hat, oder wenn sie früher
begonnen hat, im gallischen Brande untergegangen ist, zeigen
vielfache Spuren; so wissen wir, daſs die älteste in der Stadt-
chronik nach Beobachtung angegebene Sonnenfinsterniſs die
ist vom Jahre 350 kurz vor dem gallischen Brande, daſs die
gesühnten Prodigien sich erst seit Pyrrhos Zeit regelmäſsig
verzeichnet finden, und daſs die Censuszahlen erst seit dem
Anfang des fünften Jahrhundert anfangen glaublich zu lauten
(S. 72. 282). Es ist sehr wahrscheinlich, daſs im Schoſse
des Collegiums, dem die Führung des Jahrbuchs oder der
Stadtchronik oblag, ein Menschenalter etwa nach dem galli-
schen Brande ein Versuch gemacht worden ist die zu Anfang
fehlende Geschichte der Königszeit wieder herzustellen und
den dürftigen Notizen aus den ersten Zeiten der Republik
eine tapfere Verbesserung angedeihen zu lassen. Wie man
dabei verfuhr, vermögen wir natürlich nicht zu bestimmen.
Familiensagen der adlichen Geschlechter und Historisirung der
Anfänge alter Volksinstitutionen lieferten wohl einen Theil des
Materials, wie zum Beispiel die Fabiergeschichten öfters er-
scheinen und die schöne Erzählung von den Horatiern und
Curiatiern die Entstehung der Provocation zu veranschaulichen
bestimmt ist. Küstererzählungen nach Art derjenigen, aus
denen die Mirabilia Urbis erwuchsen, erkennt man in den
Geschichtchen vom heiligen Feigenbaum und andern, die an
bestimmte Plätze und Reliquien anknüpfen. Bemerkenswerth
ist das Bestreben den Ursprung der Stadt an den troischen
Kreis, den der Staatsverfassung an die pythagoreische Ur-
weisheit anzulehnen; jene hat der an der latinischen Küste
weit früher localisirten Odysseussage die vom Aeneas substituirt,
diese die ächt nationalen Gestalten des Königs Numa und der
weisen Egeria durch die Einmischung eines politisirenden und
philosophirenden Ausländers getrübt. Diese hellenisirende
Tendenz der conventionellen Urgeschichte Roms macht es
wahrscheinlich, daſs sie nicht vor der zweiten Hälfte des vier-
ten Jahrhunderts entstanden ist; jünger ist sie indeſs auch
nicht, denn schon Timaeos (402 - 498) ward die römische
Nostensage in Latium ungefähr ebenso berichtet wie wir sie

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[303/0317] INNERE VERHAELTNISSE. das heiſst den Pontifices oblag. Daſs die auf uns gekomme- nen Fasten wohl lückenhaft und interpolirt sind, aber vom Anfang dieser Periode an im Kerne ächt, läſst sich nicht be- zweifeln; und von einzelnen Notizen kann dasselbe gelten. Allein daſs eine regelmäſsige Aufzeichnung der Jahresbegeben- heiten erst viel später begonnen hat, oder wenn sie früher begonnen hat, im gallischen Brande untergegangen ist, zeigen vielfache Spuren; so wissen wir, daſs die älteste in der Stadt- chronik nach Beobachtung angegebene Sonnenfinsterniſs die ist vom Jahre 350 kurz vor dem gallischen Brande, daſs die gesühnten Prodigien sich erst seit Pyrrhos Zeit regelmäſsig verzeichnet finden, und daſs die Censuszahlen erst seit dem Anfang des fünften Jahrhundert anfangen glaublich zu lauten (S. 72. 282). Es ist sehr wahrscheinlich, daſs im Schoſse des Collegiums, dem die Führung des Jahrbuchs oder der Stadtchronik oblag, ein Menschenalter etwa nach dem galli- schen Brande ein Versuch gemacht worden ist die zu Anfang fehlende Geschichte der Königszeit wieder herzustellen und den dürftigen Notizen aus den ersten Zeiten der Republik eine tapfere Verbesserung angedeihen zu lassen. Wie man dabei verfuhr, vermögen wir natürlich nicht zu bestimmen. Familiensagen der adlichen Geschlechter und Historisirung der Anfänge alter Volksinstitutionen lieferten wohl einen Theil des Materials, wie zum Beispiel die Fabiergeschichten öfters er- scheinen und die schöne Erzählung von den Horatiern und Curiatiern die Entstehung der Provocation zu veranschaulichen bestimmt ist. Küstererzählungen nach Art derjenigen, aus denen die Mirabilia Urbis erwuchsen, erkennt man in den Geschichtchen vom heiligen Feigenbaum und andern, die an bestimmte Plätze und Reliquien anknüpfen. Bemerkenswerth ist das Bestreben den Ursprung der Stadt an den troischen Kreis, den der Staatsverfassung an die pythagoreische Ur- weisheit anzulehnen; jene hat der an der latinischen Küste weit früher localisirten Odysseussage die vom Aeneas substituirt, diese die ächt nationalen Gestalten des Königs Numa und der weisen Egeria durch die Einmischung eines politisirenden und philosophirenden Ausländers getrübt. Diese hellenisirende Tendenz der conventionellen Urgeschichte Roms macht es wahrscheinlich, daſs sie nicht vor der zweiten Hälfte des vier- ten Jahrhunderts entstanden ist; jünger ist sie indeſs auch nicht, denn schon Timaeos (402 - 498) ward die römische Nostensage in Latium ungefähr ebenso berichtet wie wir sie

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/317>, abgerufen am 12.05.2024.