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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
lage der Gemeinde unter Hut der Aedilen gab (260; S. 175).
Damit bildete sich der eigenthümliche römische Curialstil, der
der heutigen englischen Gerichtssprache gleicht an langathmigen
Perioden, endloser Aufzählung der Einzelheiten und feststehen-
den Formeln und Wendungen und sich dem Eingeweihten
durch Schärfe und Bestimmtheit empfiehlt, während der Laie
je nach Art und Laune mit Ehrfurcht, Ungeduld oder Aerger
nichts verstehend zuhört. -- Während also die Masse der
geschriebenen Gesetze und Urkunden sich mehrte, stellten
auch die Grundlagen einer eigentlichen Rechtswissenschaft
sich fest. Sowohl den jährlich wechselnden Beamten als den
aus der Menge herausgegriffenen Geschwornen war es Be-
dürfniss an Gewährsmänner (auctores) sich wenden zu kön-
nen, welche den Rechtsgang kannten und nach Präcedentien
oder in deren Ermangelung nach Gründen eine Entscheidung
an die Hand zu geben wussten. Die Pontifices, die es ge-
wohnt waren sowohl wegen der Gerichtstage als wegen aller
auf die Götterverehrung bezüglichen Bedenken und Rechtsacte
vom Volke angegangen zu werden, gaben auch in anderen
Rechtspuncten auf Verlangen Rathschläge und Gutachten ab
und entwickelten so im Schoss ihres Collegiums die Tradition,
die dem römischen Privatrecht zu Grunde liegt, vor allem die
Formeln der rechten Klage für jeden einzelnen Fall. Ein
Spiegel, der all diese Klagen zusammenfasste, nebst einem
Kalender, der die Gerichtstage angab, wurde vom Censor
Appius Claudius oder von dessen Schreiber Gnaeus Flavius
dem Volk bekannt gemacht. Indess dieser Versuch eine ihrer
selbst noch nicht bewusste Wissenschaft zu formuliren steht
für lange Zeit gänzlich vereinzelt da. Dass die Kunde des Rech-
tes und die Rechtweisung schon jetzt ein Mittel war dem Volk
sich zu empfehlen und zu Staatsämtern zu gelangen, ist be-
greiflich, wenn auch die Erzählung, dass der erste plebejische
Pontifex Publius Sempronius Sophus (Consul 449) und der erste
plebejische Oberpontifex Tiberius Coruncanius (Consul 473)
ihre Ehrenämter der Rechtskenntniss verdankten, wohl eher
Muthmassung Späterer ist als Ueberlieferung. -- Die Anfänge
einer gleichzeitigen Geschichtschreibung gehen vermuthlich
zurück auf die Beseitigung der lebenslänglichen Regenten;
seit diese jährlich wechselten, wird man ein Jahrbuch (liber
annalis
) gehabt haben, das zunächst Magistratsverzeichniss
war, aber allmählich auch andere Notizen aufnehmen musste
und dessen Führung natürlich den Mass- und Schriftgelehrten,

ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
lage der Gemeinde unter Hut der Aedilen gab (260; S. 175).
Damit bildete sich der eigenthümliche römische Curialstil, der
der heutigen englischen Gerichtssprache gleicht an langathmigen
Perioden, endloser Aufzählung der Einzelheiten und feststehen-
den Formeln und Wendungen und sich dem Eingeweihten
durch Schärfe und Bestimmtheit empfiehlt, während der Laie
je nach Art und Laune mit Ehrfurcht, Ungeduld oder Aerger
nichts verstehend zuhört. — Während also die Masse der
geschriebenen Gesetze und Urkunden sich mehrte, stellten
auch die Grundlagen einer eigentlichen Rechtswissenschaft
sich fest. Sowohl den jährlich wechselnden Beamten als den
aus der Menge herausgegriffenen Geschwornen war es Be-
dürfniſs an Gewährsmänner (auctores) sich wenden zu kön-
nen, welche den Rechtsgang kannten und nach Präcedentien
oder in deren Ermangelung nach Gründen eine Entscheidung
an die Hand zu geben wuſsten. Die Pontifices, die es ge-
wohnt waren sowohl wegen der Gerichtstage als wegen aller
auf die Götterverehrung bezüglichen Bedenken und Rechtsacte
vom Volke angegangen zu werden, gaben auch in anderen
Rechtspuncten auf Verlangen Rathschläge und Gutachten ab
und entwickelten so im Schoſs ihres Collegiums die Tradition,
die dem römischen Privatrecht zu Grunde liegt, vor allem die
Formeln der rechten Klage für jeden einzelnen Fall. Ein
Spiegel, der all diese Klagen zusammenfaſste, nebst einem
Kalender, der die Gerichtstage angab, wurde vom Censor
Appius Claudius oder von dessen Schreiber Gnaeus Flavius
dem Volk bekannt gemacht. Indeſs dieser Versuch eine ihrer
selbst noch nicht bewuſste Wissenschaft zu formuliren steht
für lange Zeit gänzlich vereinzelt da. Daſs die Kunde des Rech-
tes und die Rechtweisung schon jetzt ein Mittel war dem Volk
sich zu empfehlen und zu Staatsämtern zu gelangen, ist be-
greiflich, wenn auch die Erzählung, daſs der erste plebejische
Pontifex Publius Sempronius Sophus (Consul 449) und der erste
plebejische Oberpontifex Tiberius Coruncanius (Consul 473)
ihre Ehrenämter der Rechtskenntniſs verdankten, wohl eher
Muthmaſsung Späterer ist als Ueberlieferung. — Die Anfänge
einer gleichzeitigen Geschichtschreibung gehen vermuthlich
zurück auf die Beseitigung der lebenslänglichen Regenten;
seit diese jährlich wechselten, wird man ein Jahrbuch (liber
annalis
) gehabt haben, das zunächst Magistratsverzeichniſs
war, aber allmählich auch andere Notizen aufnehmen muſste
und dessen Führung natürlich den Maſs- und Schriftgelehrten,

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[302/0316] ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII. lage der Gemeinde unter Hut der Aedilen gab (260; S. 175). Damit bildete sich der eigenthümliche römische Curialstil, der der heutigen englischen Gerichtssprache gleicht an langathmigen Perioden, endloser Aufzählung der Einzelheiten und feststehen- den Formeln und Wendungen und sich dem Eingeweihten durch Schärfe und Bestimmtheit empfiehlt, während der Laie je nach Art und Laune mit Ehrfurcht, Ungeduld oder Aerger nichts verstehend zuhört. — Während also die Masse der geschriebenen Gesetze und Urkunden sich mehrte, stellten auch die Grundlagen einer eigentlichen Rechtswissenschaft sich fest. Sowohl den jährlich wechselnden Beamten als den aus der Menge herausgegriffenen Geschwornen war es Be- dürfniſs an Gewährsmänner (auctores) sich wenden zu kön- nen, welche den Rechtsgang kannten und nach Präcedentien oder in deren Ermangelung nach Gründen eine Entscheidung an die Hand zu geben wuſsten. Die Pontifices, die es ge- wohnt waren sowohl wegen der Gerichtstage als wegen aller auf die Götterverehrung bezüglichen Bedenken und Rechtsacte vom Volke angegangen zu werden, gaben auch in anderen Rechtspuncten auf Verlangen Rathschläge und Gutachten ab und entwickelten so im Schoſs ihres Collegiums die Tradition, die dem römischen Privatrecht zu Grunde liegt, vor allem die Formeln der rechten Klage für jeden einzelnen Fall. Ein Spiegel, der all diese Klagen zusammenfaſste, nebst einem Kalender, der die Gerichtstage angab, wurde vom Censor Appius Claudius oder von dessen Schreiber Gnaeus Flavius dem Volk bekannt gemacht. Indeſs dieser Versuch eine ihrer selbst noch nicht bewuſste Wissenschaft zu formuliren steht für lange Zeit gänzlich vereinzelt da. Daſs die Kunde des Rech- tes und die Rechtweisung schon jetzt ein Mittel war dem Volk sich zu empfehlen und zu Staatsämtern zu gelangen, ist be- greiflich, wenn auch die Erzählung, daſs der erste plebejische Pontifex Publius Sempronius Sophus (Consul 449) und der erste plebejische Oberpontifex Tiberius Coruncanius (Consul 473) ihre Ehrenämter der Rechtskenntniſs verdankten, wohl eher Muthmaſsung Späterer ist als Ueberlieferung. — Die Anfänge einer gleichzeitigen Geschichtschreibung gehen vermuthlich zurück auf die Beseitigung der lebenslänglichen Regenten; seit diese jährlich wechselten, wird man ein Jahrbuch (liber annalis) gehabt haben, das zunächst Magistratsverzeichniſs war, aber allmählich auch andere Notizen aufnehmen muſste und dessen Führung natürlich den Maſs- und Schriftgelehrten,

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/316>, abgerufen am 22.11.2024.