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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
kennen und die erste nachweisliche diplomatische Berührung
zwischen Rom und dem griechischen Osten ist die Verwen-
dung des Senats für die stammverwandten Ilier (472). --
Von einer Litteratur ausser derjenigen, die in den Gesetz-
urkunden und der Stadtchronik enthalten ist, lässt sich kaum
reden. Dass in einem Staat wie der römische war die Kunst
der Rede früh grosses Gewicht erlangte, ist natürlich; die
Sitte den Verstorbenen bei der Bestattung Gedächtnissreden
zu halten geht weit zurück, und an italienischer Vehemenz
und Eloquenz wird es dabei nicht gefehlt haben. Loblieder
auf berühmte Männer wurden wohl bei Schmäusen zur Flöte
recitirt, ebenso Todtenklagen am Sterbebett und Festlieder
bei Processionen; aber von dem freiwillig und ungeboten her-
vorsprudelnden Liederquell, wie ihn die Griechen und die
Deutschen besitzen, findet sich keine Spur weder im alten
noch im neuen Rom. Nur Spottlieder gedeihen, so dass die
zwölf Tafeln ein Verbot aufnahmen gegen das Absingen solcher
vor den Thüren der Beikommenden, und ebenso die improvisirte
Charakterkomödie, deren schon gedacht ward (S. 148). Die Büh-
nenspiele, welche in Rom zuerst 390 und seitdem oft von
etruskischen Schauspielern gegeben wurden, waren Tänze zur
Flöte ohne Dialog, also wohl eine Art Ballet, dessen Erfindung
für die Richtung des etruskischen Wesens bezeichnend ist.
-- Von den Werken dieser grossen Zeit ist in Thaten und
Gründungen viel auf die Nachwelt gekommen; Aufzeichnungen
sind in ihr wenige entstanden und so gut wie nichts ist uns
übrig geblieben; nichts aber, das ehrwürdiger und zugleich
charakteristischer wäre als die Grabschrift des Lucius Scipio,
der im Jahre 456 Consul war und mitfocht in der entschei-
denden Schlacht von Sentinum (S. 248). Wir lesen auf dem
schönen Sarkophag in edlem dorischem Stil, der noch vor acht-
zig Jahren den Staub des Besiegers der Samniten einschloss:

Cornelius Lucius -- Scipio Barbatus
Gnaivod patre prognalus -- forlis vir sapiensque
Quoius forma virtu -- lei parisuma fuit
Consol censor aidilis -- quei fuit apud vos
Taurasia Cisauna -- Samnio cepit
Subigit omne Loucanam -- opsidesque abdoucit.

Breve - Breve - Breve - || - Breve - Breve - Breve
Cornelius Lucius -- Scipio Barbatus
Des Vaters Gnaevus Sohn, ein -- Mann von Kraft und Weisheit,
Dess Wohlgestalt war seiner -- Tugend angemessen,

ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
kennen und die erste nachweisliche diplomatische Berührung
zwischen Rom und dem griechischen Osten ist die Verwen-
dung des Senats für die stammverwandten Ilier (472). —
Von einer Litteratur auſser derjenigen, die in den Gesetz-
urkunden und der Stadtchronik enthalten ist, läſst sich kaum
reden. Daſs in einem Staat wie der römische war die Kunst
der Rede früh groſses Gewicht erlangte, ist natürlich; die
Sitte den Verstorbenen bei der Bestattung Gedächtniſsreden
zu halten geht weit zurück, und an italienischer Vehemenz
und Eloquenz wird es dabei nicht gefehlt haben. Loblieder
auf berühmte Männer wurden wohl bei Schmäusen zur Flöte
recitirt, ebenso Todtenklagen am Sterbebett und Festlieder
bei Processionen; aber von dem freiwillig und ungeboten her-
vorsprudelnden Liederquell, wie ihn die Griechen und die
Deutschen besitzen, findet sich keine Spur weder im alten
noch im neuen Rom. Nur Spottlieder gedeihen, so daſs die
zwölf Tafeln ein Verbot aufnahmen gegen das Absingen solcher
vor den Thüren der Beikommenden, und ebenso die improvisirte
Charakterkomödie, deren schon gedacht ward (S. 148). Die Büh-
nenspiele, welche in Rom zuerst 390 und seitdem oft von
etruskischen Schauspielern gegeben wurden, waren Tänze zur
Flöte ohne Dialog, also wohl eine Art Ballet, dessen Erfindung
für die Richtung des etruskischen Wesens bezeichnend ist.
— Von den Werken dieser groſsen Zeit ist in Thaten und
Gründungen viel auf die Nachwelt gekommen; Aufzeichnungen
sind in ihr wenige entstanden und so gut wie nichts ist uns
übrig geblieben; nichts aber, das ehrwürdiger und zugleich
charakteristischer wäre als die Grabschrift des Lucius Scipio,
der im Jahre 456 Consul war und mitfocht in der entschei-
denden Schlacht von Sentinum (S. 248). Wir lesen auf dem
schönen Sarkophag in edlem dorischem Stil, der noch vor acht-
zig Jahren den Staub des Besiegers der Samniten einschloſs:

Cornéliús Lucius — Scipió Barbátus
Gnaivód patré prognálus — fórlis vir sapiénsque
Quoiús fórma virtu — lei parisuma fúit
Consól censór aidilis — quei fuit apúd vos
Taurásiá Cisaúna — Sámnió cépit
Subigit omné Loucánam — ópsidésque abdoúcit.

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Cornelius Lucius — Scipio Barbatus
Des Vaters Gnaevus Sohn, ein — Mann von Kraft und Weisheit,
Deſs Wohlgestalt war seiner — Tugend angemessen,

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[304/0318] ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII. kennen und die erste nachweisliche diplomatische Berührung zwischen Rom und dem griechischen Osten ist die Verwen- dung des Senats für die stammverwandten Ilier (472). — Von einer Litteratur auſser derjenigen, die in den Gesetz- urkunden und der Stadtchronik enthalten ist, läſst sich kaum reden. Daſs in einem Staat wie der römische war die Kunst der Rede früh groſses Gewicht erlangte, ist natürlich; die Sitte den Verstorbenen bei der Bestattung Gedächtniſsreden zu halten geht weit zurück, und an italienischer Vehemenz und Eloquenz wird es dabei nicht gefehlt haben. Loblieder auf berühmte Männer wurden wohl bei Schmäusen zur Flöte recitirt, ebenso Todtenklagen am Sterbebett und Festlieder bei Processionen; aber von dem freiwillig und ungeboten her- vorsprudelnden Liederquell, wie ihn die Griechen und die Deutschen besitzen, findet sich keine Spur weder im alten noch im neuen Rom. Nur Spottlieder gedeihen, so daſs die zwölf Tafeln ein Verbot aufnahmen gegen das Absingen solcher vor den Thüren der Beikommenden, und ebenso die improvisirte Charakterkomödie, deren schon gedacht ward (S. 148). Die Büh- nenspiele, welche in Rom zuerst 390 und seitdem oft von etruskischen Schauspielern gegeben wurden, waren Tänze zur Flöte ohne Dialog, also wohl eine Art Ballet, dessen Erfindung für die Richtung des etruskischen Wesens bezeichnend ist. — Von den Werken dieser groſsen Zeit ist in Thaten und Gründungen viel auf die Nachwelt gekommen; Aufzeichnungen sind in ihr wenige entstanden und so gut wie nichts ist uns übrig geblieben; nichts aber, das ehrwürdiger und zugleich charakteristischer wäre als die Grabschrift des Lucius Scipio, der im Jahre 456 Consul war und mitfocht in der entschei- denden Schlacht von Sentinum (S. 248). Wir lesen auf dem schönen Sarkophag in edlem dorischem Stil, der noch vor acht- zig Jahren den Staub des Besiegers der Samniten einschloſs: Cornéliús Lucius — Scipió Barbátus Gnaivód patré prognálus — fórlis vir sapiénsque Quoiús fórma virtu — lei parisuma fúit Consól censór aidilis — quei fuit apúd vos Taurásiá Cisaúna — Sámnió cépit Subigit omné Loucánam — ópsidésque abdoúcit. ⏑ -́ ⏑ -́ ⏑ -́ ⏓ ‖ -́ ⏑ -́ ⏑ -́ ⏑ Cornelius Lucius — Scipio Barbatus Des Vaters Gnaevus Sohn, ein — Mann von Kraft und Weisheit, Deſs Wohlgestalt war seiner — Tugend angemessen,

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/318>, abgerufen am 12.05.2024.