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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
der blinde Hass, der seitdem an den Namen des Königs sich
anknüpfte, vor allem aber die Verfügung, dass der ,Opfer-
könig', den man creiren zu müssen glaubte, damit nicht die
Götter den gewohnten Vermittler vermissten, kein weiteres
Amt bekleiden könne und also dieser zwar der erste, aber
auch der ohnmächtigste aller römischen Beamten ward. Nicht
bloss aber wurde das Königthum abgeschafft, sondern zugleich
auch der König verbannt mit seinem ganzen Geschlecht --
ein Beweis, welche Geschlossenheit damals noch die gentilici-
schen Verbindungen hatten; dies Gesetz beantragte der Reiter-
führer Lucius Iunius Brutus, als der nach dem König oberste
Beamte, und so trug die Revolution von ihm den Namen.
Das Geschlecht der Tarquinier siedelte darauf über nach
Caere, wo ihr Geschlechtsgrab kürzlich aufgedeckt worden ist.
-- Dies ist alles, was historisch über dies wichtige Ereigniss
als sicher angesehen werden kann, an welches die älteste
römische Jahreszählung anzuknüpfen pflegte. Dass in einer
grossen weitherrschenden Gemeinde wie die römische die
königliche Gewalt, namentlich wenn sie durch mehrere Gene-
rationen bei demselben Geschlechte gewesen, widerstandsfähiger
und der Kampf also lebhafter war als in den kleineren Staaten,
ist begreiflich; aber auf eine Einmischung auswärtiger Staaten
in denselben deutet keine Spur und der grosse Krieg mit
Etrurien, der übrigens wohl nur durch chronologische Con-
fusion in den römischen Jahresbüchern so nahe an die Ver-
treibung der Tarquinier gerückt ist, kann nicht als eine Inter-
vention Etruriens zu Gunsten eines in Rom beeinträchtigten
Landsmannes angesehen werden aus dem sehr zureichenden
Grunde, dass die Etrusker trotz des vollständigsten Sieges doch
das römische Königthum keineswegs wieder hergestellt noch
auch nur die Tarquinier zurückgeführt haben.

Sind wir über den historischen Zusammenhang dieses
wichtigen Ereignisses im Dunkeln, so liegt dagegen zum Glücke
klarer vor, worin die Verfassungsänderung bestand. Die Kö-
nigsgewalt ward keineswegs abgeschafft, wie schon das beweist,
dass in der Vacanz nach wie vor der ,Zwischenkönig' ernannt
ward; im Gegentheil setzte man alles daran sie wesentlich
festzuhalten in ihrer ungeschmälerten Fülle. Die Aufgabe die
absolute Gewalt zugleich rechtlich festzuhalten und factisch zu
beschränken ist in ächt römischer Weise ebenso scharf als
einfach gelöst worden theils durch die Begrenzung der Zeit-
dauer, theils durch die Einsetzung zweier gleich berechtigter

ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
der blinde Haſs, der seitdem an den Namen des Königs sich
anknüpfte, vor allem aber die Verfügung, daſs der ‚Opfer-
könig‘, den man creiren zu müssen glaubte, damit nicht die
Götter den gewohnten Vermittler vermiſsten, kein weiteres
Amt bekleiden könne und also dieser zwar der erste, aber
auch der ohnmächtigste aller römischen Beamten ward. Nicht
bloſs aber wurde das Königthum abgeschafft, sondern zugleich
auch der König verbannt mit seinem ganzen Geschlecht —
ein Beweis, welche Geschlossenheit damals noch die gentilici-
schen Verbindungen hatten; dies Gesetz beantragte der Reiter-
führer Lucius Iunius Brutus, als der nach dem König oberste
Beamte, und so trug die Revolution von ihm den Namen.
Das Geschlecht der Tarquinier siedelte darauf über nach
Caere, wo ihr Geschlechtsgrab kürzlich aufgedeckt worden ist.
— Dies ist alles, was historisch über dies wichtige Ereigniſs
als sicher angesehen werden kann, an welches die älteste
römische Jahreszählung anzuknüpfen pflegte. Daſs in einer
groſsen weitherrschenden Gemeinde wie die römische die
königliche Gewalt, namentlich wenn sie durch mehrere Gene-
rationen bei demselben Geschlechte gewesen, widerstandsfähiger
und der Kampf also lebhafter war als in den kleineren Staaten,
ist begreiflich; aber auf eine Einmischung auswärtiger Staaten
in denselben deutet keine Spur und der groſse Krieg mit
Etrurien, der übrigens wohl nur durch chronologische Con-
fusion in den römischen Jahresbüchern so nahe an die Ver-
treibung der Tarquinier gerückt ist, kann nicht als eine Inter-
vention Etruriens zu Gunsten eines in Rom beeinträchtigten
Landsmannes angesehen werden aus dem sehr zureichenden
Grunde, daſs die Etrusker trotz des vollständigsten Sieges doch
das römische Königthum keineswegs wieder hergestellt noch
auch nur die Tarquinier zurückgeführt haben.

Sind wir über den historischen Zusammenhang dieses
wichtigen Ereignisses im Dunkeln, so liegt dagegen zum Glücke
klarer vor, worin die Verfassungsänderung bestand. Die Kö-
nigsgewalt ward keineswegs abgeschafft, wie schon das beweist,
daſs in der Vacanz nach wie vor der ‚Zwischenkönig‘ ernannt
ward; im Gegentheil setzte man alles daran sie wesentlich
festzuhalten in ihrer ungeschmälerten Fülle. Die Aufgabe die
absolute Gewalt zugleich rechtlich festzuhalten und factisch zu
beschränken ist in ächt römischer Weise ebenso scharf als
einfach gelöst worden theils durch die Begrenzung der Zeit-
dauer, theils durch die Einsetzung zweier gleich berechtigter

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[160/0174] ZWEITES BUCH. KAPITEL I. der blinde Haſs, der seitdem an den Namen des Königs sich anknüpfte, vor allem aber die Verfügung, daſs der ‚Opfer- könig‘, den man creiren zu müssen glaubte, damit nicht die Götter den gewohnten Vermittler vermiſsten, kein weiteres Amt bekleiden könne und also dieser zwar der erste, aber auch der ohnmächtigste aller römischen Beamten ward. Nicht bloſs aber wurde das Königthum abgeschafft, sondern zugleich auch der König verbannt mit seinem ganzen Geschlecht — ein Beweis, welche Geschlossenheit damals noch die gentilici- schen Verbindungen hatten; dies Gesetz beantragte der Reiter- führer Lucius Iunius Brutus, als der nach dem König oberste Beamte, und so trug die Revolution von ihm den Namen. Das Geschlecht der Tarquinier siedelte darauf über nach Caere, wo ihr Geschlechtsgrab kürzlich aufgedeckt worden ist. — Dies ist alles, was historisch über dies wichtige Ereigniſs als sicher angesehen werden kann, an welches die älteste römische Jahreszählung anzuknüpfen pflegte. Daſs in einer groſsen weitherrschenden Gemeinde wie die römische die königliche Gewalt, namentlich wenn sie durch mehrere Gene- rationen bei demselben Geschlechte gewesen, widerstandsfähiger und der Kampf also lebhafter war als in den kleineren Staaten, ist begreiflich; aber auf eine Einmischung auswärtiger Staaten in denselben deutet keine Spur und der groſse Krieg mit Etrurien, der übrigens wohl nur durch chronologische Con- fusion in den römischen Jahresbüchern so nahe an die Ver- treibung der Tarquinier gerückt ist, kann nicht als eine Inter- vention Etruriens zu Gunsten eines in Rom beeinträchtigten Landsmannes angesehen werden aus dem sehr zureichenden Grunde, daſs die Etrusker trotz des vollständigsten Sieges doch das römische Königthum keineswegs wieder hergestellt noch auch nur die Tarquinier zurückgeführt haben. Sind wir über den historischen Zusammenhang dieses wichtigen Ereignisses im Dunkeln, so liegt dagegen zum Glücke klarer vor, worin die Verfassungsänderung bestand. Die Kö- nigsgewalt ward keineswegs abgeschafft, wie schon das beweist, daſs in der Vacanz nach wie vor der ‚Zwischenkönig‘ ernannt ward; im Gegentheil setzte man alles daran sie wesentlich festzuhalten in ihrer ungeschmälerten Fülle. Die Aufgabe die absolute Gewalt zugleich rechtlich festzuhalten und factisch zu beschränken ist in ächt römischer Weise ebenso scharf als einfach gelöst worden theils durch die Begrenzung der Zeit- dauer, theils durch die Einsetzung zweier gleich berechtigter

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/174>, abgerufen am 06.05.2024.