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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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AENDERUNG DER VERFASSUNG.
römischen Alterthumsforscher oder schlossen es vielmehr aus
dem als Priesteramt bis in die späteste Zeit fortgeführten Amt
des albanischen Dictator. Bei den Sabellern, Etruskern und
Apulern finden wir gleichfalls in späterer Zeit die alten lebens-
länglichen Regenten verschwunden. Für den lucanischen Gau
ist es bezeugt, dass er im Frieden sich demokratisch regierte
und nur für den Krieg die Magistrate einen König, das heisst
einen dem römischen Dictator ähnlichen Beamten bestellten;
die sabellischen Stadtgemeinden, zum Beispiel die von Capua
und Pompeii, gehorchten einem jährlich wechselnden ,Gemein-
debesorger' (medix tuticus) und ähnliche Institutionen mögen
wir auch bei den übrigen Volks- und Stadtgemeinden Italiens
voraussetzen. Die Bestellung zweier höchster Beamten mit
concurrirender Gewalt, der ,Collegen' (consules, wie exsules,
insula
), wie wir sie in Rom und den übrigen Städten La-
tiums finden, darf dagegen als eine eigenthümlich latinische
Ordnung betrachtet werden. Zu dieser seltsamen Institution,
die nicht den Beamten zusammen, sondern jedem ganz die
höchste Macht übertrug, wird überhaupt sich kaum in einem
andern grössern Staate eine Parallele finden; doch hat sie im
Ganzen genommen sich praktisch bewährt und ist später von
den Römern bei allen Magistraturen fast ohne Ausnahme bei-
behalten worden.

So einfach die Ursache dieser Veränderung ist, so man-
nichfaltig mochten die Anlässe sein; man mochte nach dem
Tode des lebenslänglichen Herrn beschliessen keinen solchen
wieder zu erwählen, wie nach Romulus Tode der römische
Senat versucht haben soll; oder der Herr mochte freiwillig
abdanken, was König Servius Tullius angeblich beabsichtigte;
oder das Volk mochte gegen einen Tyrannen aufstehen und ihn
vertreiben, wie dies das Ende des römischen Königthums war.
Denn mag die Geschichte der Vertreibung des letzten Tarquinius,
,des Uebermüthigen', auch noch so sehr in historische Anekdo-
ten ein- und zur historischen Novelle ausgesponnen sein, so ist
doch an den Grundzügen nicht zu zweifeln. Dass der König
es unterliess den Senat zu befragen und zu ergänzen, dass er
Todesurtheile und Confiscationen ohne Zuziehung der Rath-
männer aussprach, dass er den Bürgern Kriegsarbeit und
Handdienste über die Gebühr ansann, bezeichnet die Ueber-
lieferung in glaublicher Weise als die Ursachen der Empörung;
von der Erbitterung des Volkes zeugt das förmliche Gelöbniss,
das dasselbe ablegte, fortan keinen König mehr zu dulden und

AENDERUNG DER VERFASSUNG.
römischen Alterthumsforscher oder schlossen es vielmehr aus
dem als Priesteramt bis in die späteste Zeit fortgeführten Amt
des albanischen Dictator. Bei den Sabellern, Etruskern und
Apulern finden wir gleichfalls in späterer Zeit die alten lebens-
länglichen Regenten verschwunden. Für den lucanischen Gau
ist es bezeugt, daſs er im Frieden sich demokratisch regierte
und nur für den Krieg die Magistrate einen König, das heiſst
einen dem römischen Dictator ähnlichen Beamten bestellten;
die sabellischen Stadtgemeinden, zum Beispiel die von Capua
und Pompeii, gehorchten einem jährlich wechselnden ‚Gemein-
debesorger‘ (medix tuticus) und ähnliche Institutionen mögen
wir auch bei den übrigen Volks- und Stadtgemeinden Italiens
voraussetzen. Die Bestellung zweier höchster Beamten mit
concurrirender Gewalt, der ‚Collegen‘ (consules, wie exsules,
insula
), wie wir sie in Rom und den übrigen Städten La-
tiums finden, darf dagegen als eine eigenthümlich latinische
Ordnung betrachtet werden. Zu dieser seltsamen Institution,
die nicht den Beamten zusammen, sondern jedem ganz die
höchste Macht übertrug, wird überhaupt sich kaum in einem
andern gröſsern Staate eine Parallele finden; doch hat sie im
Ganzen genommen sich praktisch bewährt und ist später von
den Römern bei allen Magistraturen fast ohne Ausnahme bei-
behalten worden.

So einfach die Ursache dieser Veränderung ist, so man-
nichfaltig mochten die Anlässe sein; man mochte nach dem
Tode des lebenslänglichen Herrn beschlieſsen keinen solchen
wieder zu erwählen, wie nach Romulus Tode der römische
Senat versucht haben soll; oder der Herr mochte freiwillig
abdanken, was König Servius Tullius angeblich beabsichtigte;
oder das Volk mochte gegen einen Tyrannen aufstehen und ihn
vertreiben, wie dies das Ende des römischen Königthums war.
Denn mag die Geschichte der Vertreibung des letzten Tarquinius,
‚des Uebermüthigen‘, auch noch so sehr in historische Anekdo-
ten ein- und zur historischen Novelle ausgesponnen sein, so ist
doch an den Grundzügen nicht zu zweifeln. Daſs der König
es unterlieſs den Senat zu befragen und zu ergänzen, daſs er
Todesurtheile und Confiscationen ohne Zuziehung der Rath-
männer aussprach, daſs er den Bürgern Kriegsarbeit und
Handdienste über die Gebühr ansann, bezeichnet die Ueber-
lieferung in glaublicher Weise als die Ursachen der Empörung;
von der Erbitterung des Volkes zeugt das förmliche Gelöbniſs,
das dasselbe ablegte, fortan keinen König mehr zu dulden und

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[159/0173] AENDERUNG DER VERFASSUNG. römischen Alterthumsforscher oder schlossen es vielmehr aus dem als Priesteramt bis in die späteste Zeit fortgeführten Amt des albanischen Dictator. Bei den Sabellern, Etruskern und Apulern finden wir gleichfalls in späterer Zeit die alten lebens- länglichen Regenten verschwunden. Für den lucanischen Gau ist es bezeugt, daſs er im Frieden sich demokratisch regierte und nur für den Krieg die Magistrate einen König, das heiſst einen dem römischen Dictator ähnlichen Beamten bestellten; die sabellischen Stadtgemeinden, zum Beispiel die von Capua und Pompeii, gehorchten einem jährlich wechselnden ‚Gemein- debesorger‘ (medix tuticus) und ähnliche Institutionen mögen wir auch bei den übrigen Volks- und Stadtgemeinden Italiens voraussetzen. Die Bestellung zweier höchster Beamten mit concurrirender Gewalt, der ‚Collegen‘ (consules, wie exsules, insula), wie wir sie in Rom und den übrigen Städten La- tiums finden, darf dagegen als eine eigenthümlich latinische Ordnung betrachtet werden. Zu dieser seltsamen Institution, die nicht den Beamten zusammen, sondern jedem ganz die höchste Macht übertrug, wird überhaupt sich kaum in einem andern gröſsern Staate eine Parallele finden; doch hat sie im Ganzen genommen sich praktisch bewährt und ist später von den Römern bei allen Magistraturen fast ohne Ausnahme bei- behalten worden. So einfach die Ursache dieser Veränderung ist, so man- nichfaltig mochten die Anlässe sein; man mochte nach dem Tode des lebenslänglichen Herrn beschlieſsen keinen solchen wieder zu erwählen, wie nach Romulus Tode der römische Senat versucht haben soll; oder der Herr mochte freiwillig abdanken, was König Servius Tullius angeblich beabsichtigte; oder das Volk mochte gegen einen Tyrannen aufstehen und ihn vertreiben, wie dies das Ende des römischen Königthums war. Denn mag die Geschichte der Vertreibung des letzten Tarquinius, ‚des Uebermüthigen‘, auch noch so sehr in historische Anekdo- ten ein- und zur historischen Novelle ausgesponnen sein, so ist doch an den Grundzügen nicht zu zweifeln. Daſs der König es unterlieſs den Senat zu befragen und zu ergänzen, daſs er Todesurtheile und Confiscationen ohne Zuziehung der Rath- männer aussprach, daſs er den Bürgern Kriegsarbeit und Handdienste über die Gebühr ansann, bezeichnet die Ueber- lieferung in glaublicher Weise als die Ursachen der Empörung; von der Erbitterung des Volkes zeugt das förmliche Gelöbniſs, das dasselbe ablegte, fortan keinen König mehr zu dulden und

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/173>, abgerufen am 22.11.2024.