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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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aber die drei ansehnlichsten Genossenschaften der Brücken-
bauer, der Vögelschauer und der Orakelbewahrer. Die beiden
Orakelbewahrer (duoviri sacris faciundis) erforschten in
zweifelhaften Fällen, wenn es eines gottesdienstlichen Actes
bedurfte und man doch nicht wusste, welchem Gott und wie
er zu beschaffen sei, den Willen der Gottheit aus den Orakel-
büchern; die sechs Auguren verstanden die Sprache der Götter
aus dem Flug der Vögel zu deuten, welche Auslegungskunst
sehr ernstlich betrieben und in ein gleichsam wissenschaftliches
System gebracht ward; endlich die fünf Brückenbauer (,pontifi-
ces'
) hatten zunächst die ebenso heilige als politisch wichtige
Aufgabe den Bau und das Abbrechen der Tiberbrücke zu leiten.
Es waren die römischen Ingenieure, die das Geheimniss der
Masse und Zahlen verstanden; woher ihnen auch die Pflicht
zukam den Kalender des Staats zu führen, dem Volke Neu-
und Vollmond abzurufen und dafür zu sorgen, dass jede got-
tesdienstliche wie jede Gerichtshandlung am rechten Tage vor
sich gehe; und da sie also vor allen andern den Ueberblick
über den ganzen Gottesdienst hatten, ging auch wo es nöthig
war, bei Ehe, Testament und Arrogation an sie die Vorfrage,
ob die Verfügung nicht irgendwie verstosse gegen das gött-
liche Recht, und ging von ihnen die Feststellung und Bekannt-
machung der allgemeinen exoterischen Sacralvorschriften aus,
die unter dem Namen der Königsgesetze bekannt sind. So
gewannen sie, und unter ihnen wieder ihr ,Aeltester' (pontifex
maximus
) die allgemeine Oberaufsicht über den römischen
Gottesdienst und was damit zusammenhing -- und was hing
nicht damit zusammen? Sie selbst bezeichnen als den Inbe-
griff ihres Wissens ,die Kunde göttlicher und menschlicher
Dinge'; und in der That sind die Anfänge der Geschichtsauf-
zeichnung wie des Rechtes im Schoss dieser Genossenschaft
entstanden. Denn wie alle Geschichtsschreibung an den Ka-
lender und das Jahrzeitbuch anknüpft, musste auch die Kunde
des Prozesses und der Rechtssätze, da nach der Einrichtung
der römischen Gerichte in diesen selbst eine Ueberlieferung
nicht entstehen konnte, in dem Collegium der Pontifices tradi-
tionell werden, das über Gerichtstage und religiöse Rechtsfragen
ein Gutachten zu geben allein competent war. Selbst eine
gewisse polizeiliche Gewalt und die Ausübung des Hausrechts
der römischen Gemeinde über ihre Töchter, die Vestalinnen,
waren unter den Attributionen dieser Genossenschaft. -- Aber
wie hochansehnlich immer auch diese Genossenschaften waren

8*

RELIGION.
aber die drei ansehnlichsten Genossenschaften der Brücken-
bauer, der Vögelschauer und der Orakelbewahrer. Die beiden
Orakelbewahrer (duoviri sacris faciundis) erforschten in
zweifelhaften Fällen, wenn es eines gottesdienstlichen Actes
bedurfte und man doch nicht wuſste, welchem Gott und wie
er zu beschaffen sei, den Willen der Gottheit aus den Orakel-
büchern; die sechs Auguren verstanden die Sprache der Götter
aus dem Flug der Vögel zu deuten, welche Auslegungskunst
sehr ernstlich betrieben und in ein gleichsam wissenschaftliches
System gebracht ward; endlich die fünf Brückenbauer (‚pontifi-
ces‘
) hatten zunächst die ebenso heilige als politisch wichtige
Aufgabe den Bau und das Abbrechen der Tiberbrücke zu leiten.
Es waren die römischen Ingenieure, die das Geheimniſs der
Maſse und Zahlen verstanden; woher ihnen auch die Pflicht
zukam den Kalender des Staats zu führen, dem Volke Neu-
und Vollmond abzurufen und dafür zu sorgen, daſs jede got-
tesdienstliche wie jede Gerichtshandlung am rechten Tage vor
sich gehe; und da sie also vor allen andern den Ueberblick
über den ganzen Gottesdienst hatten, ging auch wo es nöthig
war, bei Ehe, Testament und Arrogation an sie die Vorfrage,
ob die Verfügung nicht irgendwie verstoſse gegen das gött-
liche Recht, und ging von ihnen die Feststellung und Bekannt-
machung der allgemeinen exoterischen Sacralvorschriften aus,
die unter dem Namen der Königsgesetze bekannt sind. So
gewannen sie, und unter ihnen wieder ihr ‚Aeltester‘ (pontifex
maximus
) die allgemeine Oberaufsicht über den römischen
Gottesdienst und was damit zusammenhing — und was hing
nicht damit zusammen? Sie selbst bezeichnen als den Inbe-
griff ihres Wissens ‚die Kunde göttlicher und menschlicher
Dinge‘; und in der That sind die Anfänge der Geschichtsauf-
zeichnung wie des Rechtes im Schoſs dieser Genossenschaft
entstanden. Denn wie alle Geschichtsschreibung an den Ka-
lender und das Jahrzeitbuch anknüpft, muſste auch die Kunde
des Prozesses und der Rechtssätze, da nach der Einrichtung
der römischen Gerichte in diesen selbst eine Ueberlieferung
nicht entstehen konnte, in dem Collegium der Pontifices tradi-
tionell werden, das über Gerichtstage und religiöse Rechtsfragen
ein Gutachten zu geben allein competent war. Selbst eine
gewisse polizeiliche Gewalt und die Ausübung des Hausrechts
der römischen Gemeinde über ihre Töchter, die Vestalinnen,
waren unter den Attributionen dieser Genossenschaft. — Aber
wie hochansehnlich immer auch diese Genossenschaften waren

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[115/0129] RELIGION. aber die drei ansehnlichsten Genossenschaften der Brücken- bauer, der Vögelschauer und der Orakelbewahrer. Die beiden Orakelbewahrer (duoviri sacris faciundis) erforschten in zweifelhaften Fällen, wenn es eines gottesdienstlichen Actes bedurfte und man doch nicht wuſste, welchem Gott und wie er zu beschaffen sei, den Willen der Gottheit aus den Orakel- büchern; die sechs Auguren verstanden die Sprache der Götter aus dem Flug der Vögel zu deuten, welche Auslegungskunst sehr ernstlich betrieben und in ein gleichsam wissenschaftliches System gebracht ward; endlich die fünf Brückenbauer (‚pontifi- ces‘) hatten zunächst die ebenso heilige als politisch wichtige Aufgabe den Bau und das Abbrechen der Tiberbrücke zu leiten. Es waren die römischen Ingenieure, die das Geheimniſs der Maſse und Zahlen verstanden; woher ihnen auch die Pflicht zukam den Kalender des Staats zu führen, dem Volke Neu- und Vollmond abzurufen und dafür zu sorgen, daſs jede got- tesdienstliche wie jede Gerichtshandlung am rechten Tage vor sich gehe; und da sie also vor allen andern den Ueberblick über den ganzen Gottesdienst hatten, ging auch wo es nöthig war, bei Ehe, Testament und Arrogation an sie die Vorfrage, ob die Verfügung nicht irgendwie verstoſse gegen das gött- liche Recht, und ging von ihnen die Feststellung und Bekannt- machung der allgemeinen exoterischen Sacralvorschriften aus, die unter dem Namen der Königsgesetze bekannt sind. So gewannen sie, und unter ihnen wieder ihr ‚Aeltester‘ (pontifex maximus) die allgemeine Oberaufsicht über den römischen Gottesdienst und was damit zusammenhing — und was hing nicht damit zusammen? Sie selbst bezeichnen als den Inbe- griff ihres Wissens ‚die Kunde göttlicher und menschlicher Dinge‘; und in der That sind die Anfänge der Geschichtsauf- zeichnung wie des Rechtes im Schoſs dieser Genossenschaft entstanden. Denn wie alle Geschichtsschreibung an den Ka- lender und das Jahrzeitbuch anknüpft, muſste auch die Kunde des Prozesses und der Rechtssätze, da nach der Einrichtung der römischen Gerichte in diesen selbst eine Ueberlieferung nicht entstehen konnte, in dem Collegium der Pontifices tradi- tionell werden, das über Gerichtstage und religiöse Rechtsfragen ein Gutachten zu geben allein competent war. Selbst eine gewisse polizeiliche Gewalt und die Ausübung des Hausrechts der römischen Gemeinde über ihre Töchter, die Vestalinnen, waren unter den Attributionen dieser Genossenschaft. — Aber wie hochansehnlich immer auch diese Genossenschaften waren 8*

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/129>, abgerufen am 28.04.2024.