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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL XII.
und wie wichtige und umfassende Befugnisse sie zugetheilt
erhielten, nie vergass man, und am wenigsten bei den am
höchsten gestellten, dass sie Sachverständige waren und nicht
zu befehlen, sondern Rath zu ertheilen, die Antwort der Götter
nicht unmittelbar zu erbitten, sondern die ertheilte dem Fra-
ger auszulegen hatten. So steht auch der vornehmste Priester
nicht bloss im Rang dem König nach, sondern er darf unge-
fragt nicht einmal seinen Rath ertheilen; dem König steht es
zu zu bestimmen, ob und wann er die Vögel beobachten will
und der Vögelschauer steht nur dabei und verdollmetscht ihm,
wenn es nöthig ist, die Sprache der Himmelsboten. Ebenso
kann der Fetialis und der Pontifex in das Staats- und das
Landrecht nicht anders eingreifen als wenn die Beikommen-
den es von ihm begehren, und mit unerbittlicher Strenge hat
man trotz aller Frömmigkeit festgehalten an dem Grundsatz,
dass in dem Staat die Priesterschaft in vollkommener Macht-
losigkeit zu verbleiben und von allem Befehlen ausgeschlossen
dem geringsten Beamten gleich jedem andern Bürger Gehor-
sam zu leisten hat.

Worin der römische Götterdienst bestand, lässt sich im
Allgemeinen schon erkennen aus den Namen der Priester und
Priesterschaften. Die Gottesverehrung, hervorgegangen aus
dem freudigen Behagen des Menschen am Irdischen und nur
in untergeordneter Weise aus der Furcht vor den Naturkräf-
ten, ist durchgängig Aeusserung der Freude: Lieder und Ge-
sänge, Spiele und Tänze sind der Inhalt der meisten römi-
schen gottesdienstlichen Gebräuche, vor allem aber natürlich
die Schmäuse, namentlich wenn ein Stück Vieh geschlachtet
worden ist; das Schwein als der gewöhnliche Festbraten ist
auch den Göttern das gefälligste Opfer. Menschenopfer sind
den Römern, wenigstens so weit unser Blick reicht, fremd
geblieben, ausser wo in Zeiten höchster Noth Verzweiflung
und Aberglaube im Gräuel Rettung suchten. Wohl aber suchte
man das verwirkte Unheil von dem Menschen auf andere
Wesen abzulenken; so bot wer absichtslos unschuldiges Blut
vergossen hatte, für sich einen Bock dar, und ähnlich flehte
man zum Vater Tiberis, der jährlich seine Opfer erheischte,
sich anstatt der Häupter der Menschen genügen zu lassen an
dreissig Zwiebelhäuptern, die man in den Fluss versenkte.
Geheimnisskrämerei und das sittenlose Mysterienwesen ist dem
italischen Cultus gänzlich fremd und verträgt sich nicht mit
dessen menschlich heiterem und klarem Wesen. Dagegen

ERSTES BUCH. KAPITEL XII.
und wie wichtige und umfassende Befugnisse sie zugetheilt
erhielten, nie vergaſs man, und am wenigsten bei den am
höchsten gestellten, daſs sie Sachverständige waren und nicht
zu befehlen, sondern Rath zu ertheilen, die Antwort der Götter
nicht unmittelbar zu erbitten, sondern die ertheilte dem Fra-
ger auszulegen hatten. So steht auch der vornehmste Priester
nicht bloſs im Rang dem König nach, sondern er darf unge-
fragt nicht einmal seinen Rath ertheilen; dem König steht es
zu zu bestimmen, ob und wann er die Vögel beobachten will
und der Vögelschauer steht nur dabei und verdollmetscht ihm,
wenn es nöthig ist, die Sprache der Himmelsboten. Ebenso
kann der Fetialis und der Pontifex in das Staats- und das
Landrecht nicht anders eingreifen als wenn die Beikommen-
den es von ihm begehren, und mit unerbittlicher Strenge hat
man trotz aller Frömmigkeit festgehalten an dem Grundsatz,
daſs in dem Staat die Priesterschaft in vollkommener Macht-
losigkeit zu verbleiben und von allem Befehlen ausgeschlossen
dem geringsten Beamten gleich jedem andern Bürger Gehor-
sam zu leisten hat.

Worin der römische Götterdienst bestand, läſst sich im
Allgemeinen schon erkennen aus den Namen der Priester und
Priesterschaften. Die Gottesverehrung, hervorgegangen aus
dem freudigen Behagen des Menschen am Irdischen und nur
in untergeordneter Weise aus der Furcht vor den Naturkräf-
ten, ist durchgängig Aeuſserung der Freude: Lieder und Ge-
sänge, Spiele und Tänze sind der Inhalt der meisten römi-
schen gottesdienstlichen Gebräuche, vor allem aber natürlich
die Schmäuse, namentlich wenn ein Stück Vieh geschlachtet
worden ist; das Schwein als der gewöhnliche Festbraten ist
auch den Göttern das gefälligste Opfer. Menschenopfer sind
den Römern, wenigstens so weit unser Blick reicht, fremd
geblieben, auſser wo in Zeiten höchster Noth Verzweiflung
und Aberglaube im Gräuel Rettung suchten. Wohl aber suchte
man das verwirkte Unheil von dem Menschen auf andere
Wesen abzulenken; so bot wer absichtslos unschuldiges Blut
vergossen hatte, für sich einen Bock dar, und ähnlich flehte
man zum Vater Tiberis, der jährlich seine Opfer erheischte,
sich anstatt der Häupter der Menschen genügen zu lassen an
dreiſsig Zwiebelhäuptern, die man in den Fluſs versenkte.
Geheimniſskrämerei und das sittenlose Mysterienwesen ist dem
italischen Cultus gänzlich fremd und verträgt sich nicht mit
dessen menschlich heiterem und klarem Wesen. Dagegen

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[116/0130] ERSTES BUCH. KAPITEL XII. und wie wichtige und umfassende Befugnisse sie zugetheilt erhielten, nie vergaſs man, und am wenigsten bei den am höchsten gestellten, daſs sie Sachverständige waren und nicht zu befehlen, sondern Rath zu ertheilen, die Antwort der Götter nicht unmittelbar zu erbitten, sondern die ertheilte dem Fra- ger auszulegen hatten. So steht auch der vornehmste Priester nicht bloſs im Rang dem König nach, sondern er darf unge- fragt nicht einmal seinen Rath ertheilen; dem König steht es zu zu bestimmen, ob und wann er die Vögel beobachten will und der Vögelschauer steht nur dabei und verdollmetscht ihm, wenn es nöthig ist, die Sprache der Himmelsboten. Ebenso kann der Fetialis und der Pontifex in das Staats- und das Landrecht nicht anders eingreifen als wenn die Beikommen- den es von ihm begehren, und mit unerbittlicher Strenge hat man trotz aller Frömmigkeit festgehalten an dem Grundsatz, daſs in dem Staat die Priesterschaft in vollkommener Macht- losigkeit zu verbleiben und von allem Befehlen ausgeschlossen dem geringsten Beamten gleich jedem andern Bürger Gehor- sam zu leisten hat. Worin der römische Götterdienst bestand, läſst sich im Allgemeinen schon erkennen aus den Namen der Priester und Priesterschaften. Die Gottesverehrung, hervorgegangen aus dem freudigen Behagen des Menschen am Irdischen und nur in untergeordneter Weise aus der Furcht vor den Naturkräf- ten, ist durchgängig Aeuſserung der Freude: Lieder und Ge- sänge, Spiele und Tänze sind der Inhalt der meisten römi- schen gottesdienstlichen Gebräuche, vor allem aber natürlich die Schmäuse, namentlich wenn ein Stück Vieh geschlachtet worden ist; das Schwein als der gewöhnliche Festbraten ist auch den Göttern das gefälligste Opfer. Menschenopfer sind den Römern, wenigstens so weit unser Blick reicht, fremd geblieben, auſser wo in Zeiten höchster Noth Verzweiflung und Aberglaube im Gräuel Rettung suchten. Wohl aber suchte man das verwirkte Unheil von dem Menschen auf andere Wesen abzulenken; so bot wer absichtslos unschuldiges Blut vergossen hatte, für sich einen Bock dar, und ähnlich flehte man zum Vater Tiberis, der jährlich seine Opfer erheischte, sich anstatt der Häupter der Menschen genügen zu lassen an dreiſsig Zwiebelhäuptern, die man in den Fluſs versenkte. Geheimniſskrämerei und das sittenlose Mysterienwesen ist dem italischen Cultus gänzlich fremd und verträgt sich nicht mit dessen menschlich heiterem und klarem Wesen. Dagegen

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/130>, abgerufen am 27.04.2024.