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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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RECHT UND GERICHT.
statt des Namens eine Anschauung oder doch eine Ahnung
gewähren.

Vom Rechtswesen ist nur für die römische Gemeinde
eine Ueberlieferung auf uns gekommen. -- Gericht oder ,Ge-
bot' (ius) hält der König an den Sprechtagen (dies fasti) auf
dem Marktplatz, sitzend auf dem ,Herrenstuhl' (sella curulis);
ihm zur Seite stehen seine Boten, vor ihm die Parteien. In-
dess die Herrenmacht des Hausvaters und der Familie be-
stand daneben fort auch nach Bildung der römischen Gemeinde,
unbedingt für die Frauen, deren rechter Richter entweder der
Vater oder der Ehemann oder in deren Ermangelung die Fa-
milie ist, beschränkt für die Männer, die nur in dem Haus-
vater einen zweiten Herrn neben dem König über sich er-
kennen; in allen Fällen aber concurrirt mit der Familien- die
königliche Gerichtsbarkeit. -- Regelmässig schreitet der Staat
von sich aus nur ein, wenn der gemeine Frieden gebrochen
ist, also vor allen Dingen im Fall des Landesverraths oder
der Gemeinschaft mit dem Landesfeind (proditio) und der ge-
waltsamen Auflehnung gegen die Obrigkeit (perduellio). Aber
auch der arge Mörder (paricida), der Brandstifter, der falsche
Zeuge, ferner wer die Ernte durch bösen Zauber bespricht
oder wer zur Nachtzeit auf dem der Hut der Götter und des
Volkes überlassenen Acker unbefugt das Korn schneidet, auch sie
brechen den gemeinen Frieden und werden desshalb dem Hoch-
verräther gleich geachtet. Den Prozess eröffnet und leitet der
König und fällt das Urtheil, nachdem er mit den zugezogenen
Rathmännern sich besprochen hat. Doch steht es ihm frei,
nachdem er den Prozess eröffnet hat, die weitere Verhandlung
und die Urtheilsfällung an Stellvertreter zu übertragen, die
regelmässig aus dem Rath genommen werden. Ausserordent-
liche Stellvertreter der Art sind die Commissarien zur Aburthei-
lung der Empörung (duoviri perduellionis). Ständige Stellver-
treter scheinen die ,Mordspürer' (quaestores paricidii) gewesen
zu sein, denen zunächst wohl die Aufspürung und Verhaftung
der Mörder, also eine gewisse polizeiliche Thätigkeit oblag.
Untersuchungshaft ist Regel, doch kann auch der Angeklagte
gegen Bürgschaft entlassen werden. Folterung zur Erzwingung
des Geständnisses kommt nur vor für Sclaven. Wer über-
wiesen ist den gemeinen Frieden gebrochen zu haben, büsst
immer mit dem Leben; die Todesstrafen sind mannigfaltig,
so wird der falsche Zeuge vom Burgfelsen gestürzt, der Ernte-
dieb aufgeknüpft, der Brandstifter verbrannt. Begnadigen kann

RECHT UND GERICHT.
statt des Namens eine Anschauung oder doch eine Ahnung
gewähren.

Vom Rechtswesen ist nur für die römische Gemeinde
eine Ueberlieferung auf uns gekommen. — Gericht oder ‚Ge-
bot‘ (ius) hält der König an den Sprechtagen (dies fasti) auf
dem Marktplatz, sitzend auf dem ‚Herrenstuhl‘ (sella curulis);
ihm zur Seite stehen seine Boten, vor ihm die Parteien. In-
deſs die Herrenmacht des Hausvaters und der Familie be-
stand daneben fort auch nach Bildung der römischen Gemeinde,
unbedingt für die Frauen, deren rechter Richter entweder der
Vater oder der Ehemann oder in deren Ermangelung die Fa-
milie ist, beschränkt für die Männer, die nur in dem Haus-
vater einen zweiten Herrn neben dem König über sich er-
kennen; in allen Fällen aber concurrirt mit der Familien- die
königliche Gerichtsbarkeit. — Regelmäſsig schreitet der Staat
von sich aus nur ein, wenn der gemeine Frieden gebrochen
ist, also vor allen Dingen im Fall des Landesverraths oder
der Gemeinschaft mit dem Landesfeind (proditio) und der ge-
waltsamen Auflehnung gegen die Obrigkeit (perduellio). Aber
auch der arge Mörder (paricida), der Brandstifter, der falsche
Zeuge, ferner wer die Ernte durch bösen Zauber bespricht
oder wer zur Nachtzeit auf dem der Hut der Götter und des
Volkes überlassenen Acker unbefugt das Korn schneidet, auch sie
brechen den gemeinen Frieden und werden deſshalb dem Hoch-
verräther gleich geachtet. Den Prozeſs eröffnet und leitet der
König und fällt das Urtheil, nachdem er mit den zugezogenen
Rathmännern sich besprochen hat. Doch steht es ihm frei,
nachdem er den Prozeſs eröffnet hat, die weitere Verhandlung
und die Urtheilsfällung an Stellvertreter zu übertragen, die
regelmäſsig aus dem Rath genommen werden. Auſserordent-
liche Stellvertreter der Art sind die Commissarien zur Aburthei-
lung der Empörung (duoviri perduellionis). Ständige Stellver-
treter scheinen die ‚Mordspürer‘ (quaestores paricidii) gewesen
zu sein, denen zunächst wohl die Aufspürung und Verhaftung
der Mörder, also eine gewisse polizeiliche Thätigkeit oblag.
Untersuchungshaft ist Regel, doch kann auch der Angeklagte
gegen Bürgschaft entlassen werden. Folterung zur Erzwingung
des Geständnisses kommt nur vor für Sclaven. Wer über-
wiesen ist den gemeinen Frieden gebrochen zu haben, büſst
immer mit dem Leben; die Todesstrafen sind mannigfaltig,
so wird der falsche Zeuge vom Burgfelsen gestürzt, der Ernte-
dieb aufgeknüpft, der Brandstifter verbrannt. Begnadigen kann

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[103/0117] RECHT UND GERICHT. statt des Namens eine Anschauung oder doch eine Ahnung gewähren. Vom Rechtswesen ist nur für die römische Gemeinde eine Ueberlieferung auf uns gekommen. — Gericht oder ‚Ge- bot‘ (ius) hält der König an den Sprechtagen (dies fasti) auf dem Marktplatz, sitzend auf dem ‚Herrenstuhl‘ (sella curulis); ihm zur Seite stehen seine Boten, vor ihm die Parteien. In- deſs die Herrenmacht des Hausvaters und der Familie be- stand daneben fort auch nach Bildung der römischen Gemeinde, unbedingt für die Frauen, deren rechter Richter entweder der Vater oder der Ehemann oder in deren Ermangelung die Fa- milie ist, beschränkt für die Männer, die nur in dem Haus- vater einen zweiten Herrn neben dem König über sich er- kennen; in allen Fällen aber concurrirt mit der Familien- die königliche Gerichtsbarkeit. — Regelmäſsig schreitet der Staat von sich aus nur ein, wenn der gemeine Frieden gebrochen ist, also vor allen Dingen im Fall des Landesverraths oder der Gemeinschaft mit dem Landesfeind (proditio) und der ge- waltsamen Auflehnung gegen die Obrigkeit (perduellio). Aber auch der arge Mörder (paricida), der Brandstifter, der falsche Zeuge, ferner wer die Ernte durch bösen Zauber bespricht oder wer zur Nachtzeit auf dem der Hut der Götter und des Volkes überlassenen Acker unbefugt das Korn schneidet, auch sie brechen den gemeinen Frieden und werden deſshalb dem Hoch- verräther gleich geachtet. Den Prozeſs eröffnet und leitet der König und fällt das Urtheil, nachdem er mit den zugezogenen Rathmännern sich besprochen hat. Doch steht es ihm frei, nachdem er den Prozeſs eröffnet hat, die weitere Verhandlung und die Urtheilsfällung an Stellvertreter zu übertragen, die regelmäſsig aus dem Rath genommen werden. Auſserordent- liche Stellvertreter der Art sind die Commissarien zur Aburthei- lung der Empörung (duoviri perduellionis). Ständige Stellver- treter scheinen die ‚Mordspürer‘ (quaestores paricidii) gewesen zu sein, denen zunächst wohl die Aufspürung und Verhaftung der Mörder, also eine gewisse polizeiliche Thätigkeit oblag. Untersuchungshaft ist Regel, doch kann auch der Angeklagte gegen Bürgschaft entlassen werden. Folterung zur Erzwingung des Geständnisses kommt nur vor für Sclaven. Wer über- wiesen ist den gemeinen Frieden gebrochen zu haben, büſst immer mit dem Leben; die Todesstrafen sind mannigfaltig, so wird der falsche Zeuge vom Burgfelsen gestürzt, der Ernte- dieb aufgeknüpft, der Brandstifter verbrannt. Begnadigen kann

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/117>, abgerufen am 27.04.2024.