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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL X.
Flotte, die gestützt auf die starke Handelsmarine die bedeu-
tendste grossgriechische Seemacht ward. Es ist sonach er-
klärlich, dass auf die Tarentiner zurückgeht, was sich von
griechischer Civilisation im Südosten Italiens vorfindet; indess
fallen davon in diese Zeit nur die ersten Anfänge. Der Helle-
nismus Apuliens entwickelte sich erst in einer späteren Epoche.

Bescheidener war die Blüthe der griechischen Städte am
Vesuv, der Kymaeer, die von der fruchtbaren Insel Aenaria
auf das Festland hinübergingen und auf einem natürlich festen
Hügel hart am Meere sich niederliessen, von wo aus der Hafen-
platz Dikaearchia, die Städte Parthenope und Neapolis ge-
gründet wurden. Wir wissen wenig von der älteren Geschichte
dieser campanischen Griechen; doch ist es klar, dass sie nicht
erobernd und unterdrückend gegen die Eingebornen auftraten,
sondern von ihrem engen Bezirk aus mit ihnen friedlich han-
delten und verkehrten und dadurch, indem sie sich eine ge-
deihliche Existenz schufen, zugleich die wichtigste Stelle ein-
nahmen unter den Missionären der griechischen Civilisation
in Italien. Sie lebten nach den Gesetzen des Charondas, die
den lokrischen des Zaleukos -- dem ältesten griechischen
Gesetzbuch -- im Ganzen wie im Einzelnen sehr ähnlich ge-
wesen zu sein scheinen, in einer demokratischen jedoch durch
hohen Census gemässigten Verfassung, welche die Macht in
die Hände eines aus den Reichsten erlesenen Rathes von tau-
send Mitgliedern legte; eine Verfassung, die sich bewährte
und im Ganzen von diesen Städten Tyrannis wie Pöbelregi-
ment fernhielt. -- Von ähnlicher Art mag die jüngste der
grössern italischen Colonien, die um 01. 61, der Stadt 217
gegründete Niederlassung der Phokier Velia gewesen sein, nur
dass dies kühne Schiffergeschlecht weniger mit den nächsten
Anwohnern in den lucanischen Gebirgen verkehrte als zur
See mit den Küstenbewohnern des tyrrhenischen Meeres; ver-
schiedene Spuren deuten auf einen alten und freundlichen
Verkehr mit den Latinern an der Tiber.

Indess den kühnen hellenischen Schiffern und Kaufleuten
fehlte es nicht an einer concurrirenden und rivalisirenden
Nation. Um ganz Sicilien herum, erzählt Thukydides, hatten,
ehe die Griechen dorthin kamen oder wenigstens ehe sie dort
in grösserer Anzahl sich festsetzten, die Poener auf den Land-
spitzen und Inselchen ihre Factoreien gegründet, des Handels
wegen mit den Eingebornen, nicht um Land zu gewinnen.
Dass dieselben auch in Unteritalien vor den Griechen gehaust

ERSTES BUCH. KAPITEL X.
Flotte, die gestützt auf die starke Handelsmarine die bedeu-
tendste groſsgriechische Seemacht ward. Es ist sonach er-
klärlich, daſs auf die Tarentiner zurückgeht, was sich von
griechischer Civilisation im Südosten Italiens vorfindet; indeſs
fallen davon in diese Zeit nur die ersten Anfänge. Der Helle-
nismus Apuliens entwickelte sich erst in einer späteren Epoche.

Bescheidener war die Blüthe der griechischen Städte am
Vesuv, der Kymaeer, die von der fruchtbaren Insel Aenaria
auf das Festland hinübergingen und auf einem natürlich festen
Hügel hart am Meere sich niederlieſsen, von wo aus der Hafen-
platz Dikaearchia, die Städte Parthenope und Neapolis ge-
gründet wurden. Wir wissen wenig von der älteren Geschichte
dieser campanischen Griechen; doch ist es klar, daſs sie nicht
erobernd und unterdrückend gegen die Eingebornen auftraten,
sondern von ihrem engen Bezirk aus mit ihnen friedlich han-
delten und verkehrten und dadurch, indem sie sich eine ge-
deihliche Existenz schufen, zugleich die wichtigste Stelle ein-
nahmen unter den Missionären der griechischen Civilisation
in Italien. Sie lebten nach den Gesetzen des Charondas, die
den lokrischen des Zaleukos — dem ältesten griechischen
Gesetzbuch — im Ganzen wie im Einzelnen sehr ähnlich ge-
wesen zu sein scheinen, in einer demokratischen jedoch durch
hohen Census gemäſsigten Verfassung, welche die Macht in
die Hände eines aus den Reichsten erlesenen Rathes von tau-
send Mitgliedern legte; eine Verfassung, die sich bewährte
und im Ganzen von diesen Städten Tyrannis wie Pöbelregi-
ment fernhielt. — Von ähnlicher Art mag die jüngste der
gröſsern italischen Colonien, die um 01. 61, der Stadt 217
gegründete Niederlassung der Phokier Velia gewesen sein, nur
daſs dies kühne Schiffergeschlecht weniger mit den nächsten
Anwohnern in den lucanischen Gebirgen verkehrte als zur
See mit den Küstenbewohnern des tyrrhenischen Meeres; ver-
schiedene Spuren deuten auf einen alten und freundlichen
Verkehr mit den Latinern an der Tiber.

Indeſs den kühnen hellenischen Schiffern und Kaufleuten
fehlte es nicht an einer concurrirenden und rivalisirenden
Nation. Um ganz Sicilien herum, erzählt Thukydides, hatten,
ehe die Griechen dorthin kamen oder wenigstens ehe sie dort
in gröſserer Anzahl sich festsetzten, die Poener auf den Land-
spitzen und Inselchen ihre Factoreien gegründet, des Handels
wegen mit den Eingebornen, nicht um Land zu gewinnen.
Daſs dieselben auch in Unteritalien vor den Griechen gehaust

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[94/0108] ERSTES BUCH. KAPITEL X. Flotte, die gestützt auf die starke Handelsmarine die bedeu- tendste groſsgriechische Seemacht ward. Es ist sonach er- klärlich, daſs auf die Tarentiner zurückgeht, was sich von griechischer Civilisation im Südosten Italiens vorfindet; indeſs fallen davon in diese Zeit nur die ersten Anfänge. Der Helle- nismus Apuliens entwickelte sich erst in einer späteren Epoche. Bescheidener war die Blüthe der griechischen Städte am Vesuv, der Kymaeer, die von der fruchtbaren Insel Aenaria auf das Festland hinübergingen und auf einem natürlich festen Hügel hart am Meere sich niederlieſsen, von wo aus der Hafen- platz Dikaearchia, die Städte Parthenope und Neapolis ge- gründet wurden. Wir wissen wenig von der älteren Geschichte dieser campanischen Griechen; doch ist es klar, daſs sie nicht erobernd und unterdrückend gegen die Eingebornen auftraten, sondern von ihrem engen Bezirk aus mit ihnen friedlich han- delten und verkehrten und dadurch, indem sie sich eine ge- deihliche Existenz schufen, zugleich die wichtigste Stelle ein- nahmen unter den Missionären der griechischen Civilisation in Italien. Sie lebten nach den Gesetzen des Charondas, die den lokrischen des Zaleukos — dem ältesten griechischen Gesetzbuch — im Ganzen wie im Einzelnen sehr ähnlich ge- wesen zu sein scheinen, in einer demokratischen jedoch durch hohen Census gemäſsigten Verfassung, welche die Macht in die Hände eines aus den Reichsten erlesenen Rathes von tau- send Mitgliedern legte; eine Verfassung, die sich bewährte und im Ganzen von diesen Städten Tyrannis wie Pöbelregi- ment fernhielt. — Von ähnlicher Art mag die jüngste der gröſsern italischen Colonien, die um 01. 61, der Stadt 217 gegründete Niederlassung der Phokier Velia gewesen sein, nur daſs dies kühne Schiffergeschlecht weniger mit den nächsten Anwohnern in den lucanischen Gebirgen verkehrte als zur See mit den Küstenbewohnern des tyrrhenischen Meeres; ver- schiedene Spuren deuten auf einen alten und freundlichen Verkehr mit den Latinern an der Tiber. Indeſs den kühnen hellenischen Schiffern und Kaufleuten fehlte es nicht an einer concurrirenden und rivalisirenden Nation. Um ganz Sicilien herum, erzählt Thukydides, hatten, ehe die Griechen dorthin kamen oder wenigstens ehe sie dort in gröſserer Anzahl sich festsetzten, die Poener auf den Land- spitzen und Inselchen ihre Factoreien gegründet, des Handels wegen mit den Eingebornen, nicht um Land zu gewinnen. Daſs dieselben auch in Unteritalien vor den Griechen gehaust

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/108>, abgerufen am 24.11.2024.