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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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DIE HELLENEN UND DIE SEEHERRSCHAFT.
der auch in die chalkidischen Städte früh eindrang. -- Die
glänzendste Rolle unter diesen Staaten, so weit sie Italien
angehören, fiel den Tarentinern zu. Der vortreffliche Hafen,
der einzige gute an der ganzen Südküste, machte ihre Stadt
zum natürlichen Entrepot des süditalischen Handels, ja sogar
eines Theiles des Verkehrs auf dem adriatischen Meer; denn vor
dem Aufblühen Brundisiums in römischer Zeit war Sipus der
südlichste nennenswerthe Stapelort an der Ostküste und die
Schiffer von Epidamnos und Apollonia zogen es häufig vor
in Tarent zu löschen -- Hydrus (Otranto) scheint in den
Händen der Tarentiner gewesen zu sein. Der reiche Fisch-
fang in dem Meerbusen, die Erzeugung und Verarbeitung der
vortrefflichen Schafwolle so wie deren Färbung mit dem Saft
der tarentinischen Purpurschnecke, die mit der tyrischen wett-
eifern konnte -- beide Industrien hieher eingebürgert aus
dem kleinasiatischen Miletos -- beschäftigten Tausende von
Händen und fügten zu dem Zwischen- noch den Ausfuhrhan-
del hinzu; die nirgends im griechischen Italien in solcher
Menge und ziemlich zahlreich selbst in Gold geschlagenen
tarentinischen Münzen sind noch heute redende Beweise des
ausgebreiteten und lebhaften tarentinischen Verkehrs. -- Aller-
dings gehört die grösste Blüthe Tarents erst der folgenden
Periode an. Erst nach Sybaris Untergang, mit dem in dessen
Blüthezeit Tarent gewetteifert hatte, erhob sich dies zum ersten
Rang unter den italischen Hellenen. Namentlich nachdem in
Folge einer furchtbaren Niederlage der Tarentiner durch die
lapyger (Ol. 76, 3, 280 der Stadt), der schwersten, die bis
dahin ein Griechenheer von Barbaren erlitten hatte, die ur-
sprüngliche aristokratische Verfassung in die vollständigste
Demokratie übergegangen war, entfaltete sich hier die ganze
Gewalt des Volksgeistes bald in grossartigster Erhebung, bald
in schandbarem Leichtsinn und kindischer Schwindelei. Ein
eigenthümlich reges Leben herrschte in diesem italischen
Athen, das unter seiner Schiffer-, Fischer- und Fabrikanten-
bevölkerung viel Reiche, aber wenig Vornehme zählte; es ist
bezeichnend, dass in dieser Stadt, wo alles belacht und ver-
lacht ward, die travestirte Tragödie erfunden worden ist. --
Im Verhältniss zu den Italikern scheinen die Tarentiner nicht
darauf ausgegangen zu sein ihr Gebiet wesentlich zu erwei-
tern; ihr Landheer bestand seit der Demokratisirung des Staats
nicht mehr aus Bürgern, sondern aus gemietheten Söldnern,
und die Kriegsmacht des Staates lag hauptsächlich in der

DIE HELLENEN UND DIE SEEHERRSCHAFT.
der auch in die chalkidischen Städte früh eindrang. — Die
glänzendste Rolle unter diesen Staaten, so weit sie Italien
angehören, fiel den Tarentinern zu. Der vortreffliche Hafen,
der einzige gute an der ganzen Südküste, machte ihre Stadt
zum natürlichen Entrepot des süditalischen Handels, ja sogar
eines Theiles des Verkehrs auf dem adriatischen Meer; denn vor
dem Aufblühen Brundisiums in römischer Zeit war Sipus der
südlichste nennenswerthe Stapelort an der Ostküste und die
Schiffer von Epidamnos und Apollonia zogen es häufig vor
in Tarent zu löschen — Hydrus (Otranto) scheint in den
Händen der Tarentiner gewesen zu sein. Der reiche Fisch-
fang in dem Meerbusen, die Erzeugung und Verarbeitung der
vortrefflichen Schafwolle so wie deren Färbung mit dem Saft
der tarentinischen Purpurschnecke, die mit der tyrischen wett-
eifern konnte — beide Industrien hieher eingebürgert aus
dem kleinasiatischen Miletos — beschäftigten Tausende von
Händen und fügten zu dem Zwischen- noch den Ausfuhrhan-
del hinzu; die nirgends im griechischen Italien in solcher
Menge und ziemlich zahlreich selbst in Gold geschlagenen
tarentinischen Münzen sind noch heute redende Beweise des
ausgebreiteten und lebhaften tarentinischen Verkehrs. — Aller-
dings gehört die gröſste Blüthe Tarents erst der folgenden
Periode an. Erst nach Sybaris Untergang, mit dem in dessen
Blüthezeit Tarent gewetteifert hatte, erhob sich dies zum ersten
Rang unter den italischen Hellenen. Namentlich nachdem in
Folge einer furchtbaren Niederlage der Tarentiner durch die
lapyger (Ol. 76, 3, 280 der Stadt), der schwersten, die bis
dahin ein Griechenheer von Barbaren erlitten hatte, die ur-
sprüngliche aristokratische Verfassung in die vollständigste
Demokratie übergegangen war, entfaltete sich hier die ganze
Gewalt des Volksgeistes bald in groſsartigster Erhebung, bald
in schandbarem Leichtsinn und kindischer Schwindelei. Ein
eigenthümlich reges Leben herrschte in diesem italischen
Athen, das unter seiner Schiffer-, Fischer- und Fabrikanten-
bevölkerung viel Reiche, aber wenig Vornehme zählte; es ist
bezeichnend, daſs in dieser Stadt, wo alles belacht und ver-
lacht ward, die travestirte Tragödie erfunden worden ist. —
Im Verhältniſs zu den Italikern scheinen die Tarentiner nicht
darauf ausgegangen zu sein ihr Gebiet wesentlich zu erwei-
tern; ihr Landheer bestand seit der Demokratisirung des Staats
nicht mehr aus Bürgern, sondern aus gemietheten Söldnern,
und die Kriegsmacht des Staates lag hauptsächlich in der

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[93/0107] DIE HELLENEN UND DIE SEEHERRSCHAFT. der auch in die chalkidischen Städte früh eindrang. — Die glänzendste Rolle unter diesen Staaten, so weit sie Italien angehören, fiel den Tarentinern zu. Der vortreffliche Hafen, der einzige gute an der ganzen Südküste, machte ihre Stadt zum natürlichen Entrepot des süditalischen Handels, ja sogar eines Theiles des Verkehrs auf dem adriatischen Meer; denn vor dem Aufblühen Brundisiums in römischer Zeit war Sipus der südlichste nennenswerthe Stapelort an der Ostküste und die Schiffer von Epidamnos und Apollonia zogen es häufig vor in Tarent zu löschen — Hydrus (Otranto) scheint in den Händen der Tarentiner gewesen zu sein. Der reiche Fisch- fang in dem Meerbusen, die Erzeugung und Verarbeitung der vortrefflichen Schafwolle so wie deren Färbung mit dem Saft der tarentinischen Purpurschnecke, die mit der tyrischen wett- eifern konnte — beide Industrien hieher eingebürgert aus dem kleinasiatischen Miletos — beschäftigten Tausende von Händen und fügten zu dem Zwischen- noch den Ausfuhrhan- del hinzu; die nirgends im griechischen Italien in solcher Menge und ziemlich zahlreich selbst in Gold geschlagenen tarentinischen Münzen sind noch heute redende Beweise des ausgebreiteten und lebhaften tarentinischen Verkehrs. — Aller- dings gehört die gröſste Blüthe Tarents erst der folgenden Periode an. Erst nach Sybaris Untergang, mit dem in dessen Blüthezeit Tarent gewetteifert hatte, erhob sich dies zum ersten Rang unter den italischen Hellenen. Namentlich nachdem in Folge einer furchtbaren Niederlage der Tarentiner durch die lapyger (Ol. 76, 3, 280 der Stadt), der schwersten, die bis dahin ein Griechenheer von Barbaren erlitten hatte, die ur- sprüngliche aristokratische Verfassung in die vollständigste Demokratie übergegangen war, entfaltete sich hier die ganze Gewalt des Volksgeistes bald in groſsartigster Erhebung, bald in schandbarem Leichtsinn und kindischer Schwindelei. Ein eigenthümlich reges Leben herrschte in diesem italischen Athen, das unter seiner Schiffer-, Fischer- und Fabrikanten- bevölkerung viel Reiche, aber wenig Vornehme zählte; es ist bezeichnend, daſs in dieser Stadt, wo alles belacht und ver- lacht ward, die travestirte Tragödie erfunden worden ist. — Im Verhältniſs zu den Italikern scheinen die Tarentiner nicht darauf ausgegangen zu sein ihr Gebiet wesentlich zu erwei- tern; ihr Landheer bestand seit der Demokratisirung des Staats nicht mehr aus Bürgern, sondern aus gemietheten Söldnern, und die Kriegsmacht des Staates lag hauptsächlich in der

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/107>, abgerufen am 27.04.2024.