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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL X.
griechischen Niederlassungen. Ueber die politischen Grenzen
hinaus ihren Einfluss zu erstrecken lag diesen Ackerbauern
ferner als den Handelsstaaten; innerhalb ihres Gebiets ver-
knechteten sie die Eingebornen und zertraten die Keime einer
nationalen Entwicklung, ohne doch den Italikern durch voll-
ständige Hellenisirung eine neue Bahn zu eröffnen. So ist
in Sybaris und Metapont, in Kroton und Poseidonia das grie-
chische Wesen, das sonst allen politischen Missgeschicken zum
Trotz sich lebenskräftig zu behaupten wusste, schneller, spur-
und ruhmloser verschwunden als in irgend einem andern Ge-
biet, während aus den Trümmern der eingebornen Italiker
und der Achaeer und den späteren Einwanderern sabellischer
Herkunft zwiesprachige Mischvölker hervorgegangen sind, die
denn auch zu keinem rechten Gedeihen gelangten. Indess
diese Katastrophe gehört der Zeit nach in die folgende Periode.

Anderer Art und von anderer Wirkung auf Italien waren
die Niederlassungen der übrigen Griechen, die im Allgemeinen
als Handelsemporien bezeichnet werden können, wie sie denn
auch ganz abweichend von den achaeischen durchgängig an
den besten Häfen und Landungsplätzen angelegt sind. Es
gehören dahin die sogenannten chalkidischen Colonien, in
Italien Kyme, mit seiner Tochterstadt Neapolis, und Rhegion,
in Sicilien Zankle, später Messana, Naxos, Katana, Himera,
ferner die dorischen, wozu in Sicilien Syrakus, Gela, Akragas,
in Italien nur Taras oder Tarentum gehören mit dessen Ko-
lonie Herakleia; ausserdem die Stadt der Lokrer mit den
Pflanzstädten Hipponion und Medama und die erst gegen Ende
dieser Periode gegründete Phokierstadt Vele oder Velia (Elea).
Die Herkunft, die Veranlassung und die Epoche der Gründungen
waren mannichfaltig verschieden; die chalkidischen Kolonien,
die ältesten unter allen, sprachen den weichen ionischen Dia-
lekt *, während in Tarent und Syrakus der dorische vorwal-
tete. Indess eine gewisse Gemeinschaft, wenigstens im Gegen-
satz zu den Achaeern, lässt sich nicht verkennen; so in dem
allen jenen Städten gemeinsamen Gebrauch des jüngeren grie-
chischen Alphabets ** und selbst in dem Dorismus der Sprache,

* So zum Beispiel heisst es auf einem kymaeischen Thongefäss Ta-
taies emi lequthos; os d' an me klephsei thuphlos estai.
** Es ist dasjenige gemeint, das die altphönicischen Formen des Iota
Q Gamma oder und Lambda durch die weniger der Verwechselung
ausgesetzten I C V ersetzte und regelmässig auch das leicht mit Pi zu
verwechselnde Rho durch den Beistrich als R unterschied.

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griechischen Niederlassungen. Ueber die politischen Grenzen
hinaus ihren Einfluſs zu erstrecken lag diesen Ackerbauern
ferner als den Handelsstaaten; innerhalb ihres Gebiets ver-
knechteten sie die Eingebornen und zertraten die Keime einer
nationalen Entwicklung, ohne doch den Italikern durch voll-
ständige Hellenisirung eine neue Bahn zu eröffnen. So ist
in Sybaris und Metapont, in Kroton und Poseidonia das grie-
chische Wesen, das sonst allen politischen Miſsgeschicken zum
Trotz sich lebenskräftig zu behaupten wuſste, schneller, spur-
und ruhmloser verschwunden als in irgend einem andern Ge-
biet, während aus den Trümmern der eingebornen Italiker
und der Achaeer und den späteren Einwanderern sabellischer
Herkunft zwiesprachige Mischvölker hervorgegangen sind, die
denn auch zu keinem rechten Gedeihen gelangten. Indeſs
diese Katastrophe gehört der Zeit nach in die folgende Periode.

Anderer Art und von anderer Wirkung auf Italien waren
die Niederlassungen der übrigen Griechen, die im Allgemeinen
als Handelsemporien bezeichnet werden können, wie sie denn
auch ganz abweichend von den achaeischen durchgängig an
den besten Häfen und Landungsplätzen angelegt sind. Es
gehören dahin die sogenannten chalkidischen Colonien, in
Italien Kyme, mit seiner Tochterstadt Neapolis, und Rhegion,
in Sicilien Zankle, später Messana, Naxos, Katana, Himera,
ferner die dorischen, wozu in Sicilien Syrakus, Gela, Akragas,
in Italien nur Taras oder Tarentum gehören mit dessen Ko-
lonie Herakleia; auſserdem die Stadt der Lokrer mit den
Pflanzstädten Hipponion und Medama und die erst gegen Ende
dieser Periode gegründete Phokierstadt Vele oder Velia (Elea).
Die Herkunft, die Veranlassung und die Epoche der Gründungen
waren mannichfaltig verschieden; die chalkidischen Kolonien,
die ältesten unter allen, sprachen den weichen ionischen Dia-
lekt *, während in Tarent und Syrakus der dorische vorwal-
tete. Indeſs eine gewisse Gemeinschaft, wenigstens im Gegen-
satz zu den Achaeern, läſst sich nicht verkennen; so in dem
allen jenen Städten gemeinsamen Gebrauch des jüngeren grie-
chischen Alphabets ** und selbst in dem Dorismus der Sprache,

* So zum Beispiel heiſst es auf einem kymaeischen Thongefäſs Τα-
ταίες ἐμὶ λέqυϑος· Ͱὸς δ᾽ ἄν με ϰλέφσει ϑυφλὸς ἔσται.
** Es ist dasjenige gemeint, das die altphönicischen Formen des Iota
Ϟ Gamma 𐤂 oder 𐤖 und Lambda 𐤋 durch die weniger der Verwechselung
ausgesetzten I C V ersetzte und regelmäſsig auch das leicht mit Pi 𐤐 zu
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[92/0106] ERSTES BUCH. KAPITEL X. griechischen Niederlassungen. Ueber die politischen Grenzen hinaus ihren Einfluſs zu erstrecken lag diesen Ackerbauern ferner als den Handelsstaaten; innerhalb ihres Gebiets ver- knechteten sie die Eingebornen und zertraten die Keime einer nationalen Entwicklung, ohne doch den Italikern durch voll- ständige Hellenisirung eine neue Bahn zu eröffnen. So ist in Sybaris und Metapont, in Kroton und Poseidonia das grie- chische Wesen, das sonst allen politischen Miſsgeschicken zum Trotz sich lebenskräftig zu behaupten wuſste, schneller, spur- und ruhmloser verschwunden als in irgend einem andern Ge- biet, während aus den Trümmern der eingebornen Italiker und der Achaeer und den späteren Einwanderern sabellischer Herkunft zwiesprachige Mischvölker hervorgegangen sind, die denn auch zu keinem rechten Gedeihen gelangten. Indeſs diese Katastrophe gehört der Zeit nach in die folgende Periode. Anderer Art und von anderer Wirkung auf Italien waren die Niederlassungen der übrigen Griechen, die im Allgemeinen als Handelsemporien bezeichnet werden können, wie sie denn auch ganz abweichend von den achaeischen durchgängig an den besten Häfen und Landungsplätzen angelegt sind. Es gehören dahin die sogenannten chalkidischen Colonien, in Italien Kyme, mit seiner Tochterstadt Neapolis, und Rhegion, in Sicilien Zankle, später Messana, Naxos, Katana, Himera, ferner die dorischen, wozu in Sicilien Syrakus, Gela, Akragas, in Italien nur Taras oder Tarentum gehören mit dessen Ko- lonie Herakleia; auſserdem die Stadt der Lokrer mit den Pflanzstädten Hipponion und Medama und die erst gegen Ende dieser Periode gegründete Phokierstadt Vele oder Velia (Elea). Die Herkunft, die Veranlassung und die Epoche der Gründungen waren mannichfaltig verschieden; die chalkidischen Kolonien, die ältesten unter allen, sprachen den weichen ionischen Dia- lekt *, während in Tarent und Syrakus der dorische vorwal- tete. Indeſs eine gewisse Gemeinschaft, wenigstens im Gegen- satz zu den Achaeern, läſst sich nicht verkennen; so in dem allen jenen Städten gemeinsamen Gebrauch des jüngeren grie- chischen Alphabets ** und selbst in dem Dorismus der Sprache, * So zum Beispiel heiſst es auf einem kymaeischen Thongefäſs Τα- ταίες ἐμὶ λέqυϑος· Ͱὸς δ᾽ ἄν με ϰλέφσει ϑυφλὸς ἔσται. ** Es ist dasjenige gemeint, das die altphönicischen Formen des Iota Ϟ Gamma 𐤂 oder 𐤖 und Lambda 𐤋 durch die weniger der Verwechselung ausgesetzten I C V ersetzte und regelmäſsig auch das leicht mit Pi 𐤐 zu verwechselnde Rho 𐤓 durch den Beistrich als R unterschied.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/106>, abgerufen am 28.04.2024.