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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

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und je heißer die Sonnenglut draußen, je kühler rauscht
es hier durch die Zweige, je lieblicher sprudelt der Quell.
Der Ort heißt Kiretsch burnu, die Kalkspitze; er ist vor
allen mein Lieblingsplätzchen, zu welchem ich zu Wasser im
bequemen Kaik, oder zu Pferde über die Berge, oder zu
Fuß auf einem schmalen, vom Meere bespülten Pfade längs
der steilen Bergwand wallfahrte. Dort habe ich manches
Stündchen verträumt.

Wohin Du Deinen Blick richtest, fällt er auf klassische
Gegenstände. An diesen Gestaden pflückte Medea ihre Zau-
berkräuter; in jenem weiten Thal, an dessen oberm Ende
eine türkische Wasserleitung schimmert, lagerten die Ritter
des ersten Kreuzzuges, und eine Gruppe von neun riesen-
hafte Stämmen trägt noch heute den Namen die Platanen
Gottfrieds von Bouillon. Sie scheinen die Wildschöß-
linge eines jetzt verschwundenen Hauptstammes zu sein und
stehen im engen Kreise dicht zusammen von unübertroffener
Schönheit und Größe*). Rechts, wo sich auf den asia-
tischen Höhen noch einige Baumgruppen erhalten haben,
war die Waldherrschaft des Amykus; links an der schrof-
fen europäischen Felswand hausete der von den Harpyen
gequälte Phineus. Jetzt liegt dort eine einsame Fischer-
hütte, Manro-molo genannt. Am Fuß der schwarzen Berge
strecken sich die weißen Mauern der Batterie in die tief-
blaue Flut. Dort waren die berühmten Altäre des Jupiter
Urius, dessen Name sich in dem türkischen Joros Kalessi
erhalten hat. Auf den Höhen zu beiden Seiten ragen die
Trümmer zweier genuesischen Castelle. Sie standen durch
lange Mauern mit den Ufern des Bosphorus und den dor-
tigen Batterien in Verbindung, denn das mächtige Han-
delsvolk legte dem byzantinischen Reich seine Fesseln auf,
bis es mit Byzanz zugleich von den Türken verschlungen
wurde. Das Schloß auf der europäischen Seite ist bei-
nahe schon verschwunden, aber das asiatische ragt noch mit

*) Siehe die Zeichnung auf dem Titelblatte.

und je heißer die Sonnenglut draußen, je kuͤhler rauſcht
es hier durch die Zweige, je lieblicher ſprudelt der Quell.
Der Ort heißt Kiretſch burnu, die Kalkſpitze; er iſt vor
allen mein Lieblingsplaͤtzchen, zu welchem ich zu Waſſer im
bequemen Kaik, oder zu Pferde uͤber die Berge, oder zu
Fuß auf einem ſchmalen, vom Meere beſpuͤlten Pfade laͤngs
der ſteilen Bergwand wallfahrte. Dort habe ich manches
Stuͤndchen vertraͤumt.

Wohin Du Deinen Blick richteſt, faͤllt er auf klaſſiſche
Gegenſtaͤnde. An dieſen Geſtaden pfluͤckte Medea ihre Zau-
berkraͤuter; in jenem weiten Thal, an deſſen oberm Ende
eine tuͤrkiſche Waſſerleitung ſchimmert, lagerten die Ritter
des erſten Kreuzzuges, und eine Gruppe von neun rieſen-
hafte Staͤmmen traͤgt noch heute den Namen die Platanen
Gottfrieds von Bouillon. Sie ſcheinen die Wildſchoͤß-
linge eines jetzt verſchwundenen Hauptſtammes zu ſein und
ſtehen im engen Kreiſe dicht zuſammen von unuͤbertroffener
Schoͤnheit und Groͤße*). Rechts, wo ſich auf den aſia-
tiſchen Hoͤhen noch einige Baumgruppen erhalten haben,
war die Waldherrſchaft des Amykus; links an der ſchrof-
fen europaͤiſchen Felswand hauſete der von den Harpyen
gequaͤlte Phineus. Jetzt liegt dort eine einſame Fiſcher-
huͤtte, Manro-molo genannt. Am Fuß der ſchwarzen Berge
ſtrecken ſich die weißen Mauern der Batterie in die tief-
blaue Flut. Dort waren die beruͤhmten Altaͤre des Jupiter
Urius, deſſen Name ſich in dem tuͤrkiſchen Joros Kaleſſi
erhalten hat. Auf den Hoͤhen zu beiden Seiten ragen die
Truͤmmer zweier genueſiſchen Caſtelle. Sie ſtanden durch
lange Mauern mit den Ufern des Bosphorus und den dor-
tigen Batterien in Verbindung, denn das maͤchtige Han-
delsvolk legte dem byzantiniſchen Reich ſeine Feſſeln auf,
bis es mit Byzanz zugleich von den Tuͤrken verſchlungen
wurde. Das Schloß auf der europaͤiſchen Seite iſt bei-
nahe ſchon verſchwunden, aber das aſiatiſche ragt noch mit

*) Siehe die Zeichnung auf dem Titelblatte.
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[80/0090] und je heißer die Sonnenglut draußen, je kuͤhler rauſcht es hier durch die Zweige, je lieblicher ſprudelt der Quell. Der Ort heißt Kiretſch burnu, die Kalkſpitze; er iſt vor allen mein Lieblingsplaͤtzchen, zu welchem ich zu Waſſer im bequemen Kaik, oder zu Pferde uͤber die Berge, oder zu Fuß auf einem ſchmalen, vom Meere beſpuͤlten Pfade laͤngs der ſteilen Bergwand wallfahrte. Dort habe ich manches Stuͤndchen vertraͤumt. Wohin Du Deinen Blick richteſt, faͤllt er auf klaſſiſche Gegenſtaͤnde. An dieſen Geſtaden pfluͤckte Medea ihre Zau- berkraͤuter; in jenem weiten Thal, an deſſen oberm Ende eine tuͤrkiſche Waſſerleitung ſchimmert, lagerten die Ritter des erſten Kreuzzuges, und eine Gruppe von neun rieſen- hafte Staͤmmen traͤgt noch heute den Namen die Platanen Gottfrieds von Bouillon. Sie ſcheinen die Wildſchoͤß- linge eines jetzt verſchwundenen Hauptſtammes zu ſein und ſtehen im engen Kreiſe dicht zuſammen von unuͤbertroffener Schoͤnheit und Groͤße *). Rechts, wo ſich auf den aſia- tiſchen Hoͤhen noch einige Baumgruppen erhalten haben, war die Waldherrſchaft des Amykus; links an der ſchrof- fen europaͤiſchen Felswand hauſete der von den Harpyen gequaͤlte Phineus. Jetzt liegt dort eine einſame Fiſcher- huͤtte, Manro-molo genannt. Am Fuß der ſchwarzen Berge ſtrecken ſich die weißen Mauern der Batterie in die tief- blaue Flut. Dort waren die beruͤhmten Altaͤre des Jupiter Urius, deſſen Name ſich in dem tuͤrkiſchen Joros Kaleſſi erhalten hat. Auf den Hoͤhen zu beiden Seiten ragen die Truͤmmer zweier genueſiſchen Caſtelle. Sie ſtanden durch lange Mauern mit den Ufern des Bosphorus und den dor- tigen Batterien in Verbindung, denn das maͤchtige Han- delsvolk legte dem byzantiniſchen Reich ſeine Feſſeln auf, bis es mit Byzanz zugleich von den Tuͤrken verſchlungen wurde. Das Schloß auf der europaͤiſchen Seite iſt bei- nahe ſchon verſchwunden, aber das aſiatiſche ragt noch mit *) Siehe die Zeichnung auf dem Titelblatte.

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Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/90>, abgerufen am 02.05.2024.