Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

Sobald man das Kaik des Hunkjar (wörtlich Erwür-
ger, Henker, einer der Ehrentitel des Padischah) erblickte,
sprang Alles auf, verbarg sich hinter der Fontaine und den
Bäumen, und man winkte mir zu, dasselbe zu thun. Sul-
tan Mahmud hat diese Art von Ehrenbezeigung bereits
verboten, aber den Rajahs steckt der hundertjährige Schrek-
ken noch tief in den Gliedern.

10.
Die politisch-militairische Lage des osmanischen
Reichs im Jahre 1836.

Es ist lange die Aufgabe abendländischer Heere gewe-
sen, der osmanischen Macht Schranken zu setzen; heute
scheint es die Sorge der europäischen Politik zu sein, die-
sem Staat das Dasein zu fristen.

Die Zeit liegt nicht so fern, da man ernstlich fürchten
durfte, der Jslam könne in einem großen Theil des Abend-
landes die Oberhand gewinnen, wie er im Orient gesiegt.
Die Bekenner des Propheten hatten Länder erobert, in
welchen das Christenthum seit Jahrhunderten Wurzel ge-
faßt. Der classische Boden der Apostel, Corinth und Ephe-
sus, Nicäa, die Stadt der Synoden und Kirchen, wie An-
tiochien, Nicomedien und Alexandrien waren ihrer Gewalt
unterworfen. Selbst die Wiege des Christenthums und
das Grab des Erlösers, Palästina und Jerusalem, gehorch-
ten den Ungläubigen, welche ihren Besitz gegen die gesammte
abendländische Ritterschaft behaupteten. Jhnen war es vor-
behalten, die lange Dauer des römischen Reichs zu beenden
und die Sophienkirche, in welcher fast 1000 Jahre Christus
und die Heiligen verehrt worden, Allah und dem Prophe-
ten zu weihen. Zu eben der Zeit, wo man in Constanz
über religiöse Sätze stritt, wo die Aussöhnung der griechi-
schen mit der katholischen Kirche sich zerschlug, und der

Sobald man das Kaik des Hunkjar (woͤrtlich Erwuͤr-
ger, Henker, einer der Ehrentitel des Padiſchah) erblickte,
ſprang Alles auf, verbarg ſich hinter der Fontaine und den
Baͤumen, und man winkte mir zu, daſſelbe zu thun. Sul-
tan Mahmud hat dieſe Art von Ehrenbezeigung bereits
verboten, aber den Rajahs ſteckt der hundertjaͤhrige Schrek-
ken noch tief in den Gliedern.

10.
Die politiſch-militairiſche Lage des osmaniſchen
Reichs im Jahre 1836.

Es iſt lange die Aufgabe abendlaͤndiſcher Heere gewe-
ſen, der osmaniſchen Macht Schranken zu ſetzen; heute
ſcheint es die Sorge der europaͤiſchen Politik zu ſein, die-
ſem Staat das Daſein zu friſten.

Die Zeit liegt nicht ſo fern, da man ernſtlich fuͤrchten
durfte, der Jslam koͤnne in einem großen Theil des Abend-
landes die Oberhand gewinnen, wie er im Orient geſiegt.
Die Bekenner des Propheten hatten Laͤnder erobert, in
welchen das Chriſtenthum ſeit Jahrhunderten Wurzel ge-
faßt. Der claſſiſche Boden der Apoſtel, Corinth und Ephe-
ſus, Nicaͤa, die Stadt der Synoden und Kirchen, wie An-
tiochien, Nicomedien und Alexandrien waren ihrer Gewalt
unterworfen. Selbſt die Wiege des Chriſtenthums und
das Grab des Erloͤſers, Palaͤſtina und Jeruſalem, gehorch-
ten den Unglaͤubigen, welche ihren Beſitz gegen die geſammte
abendlaͤndiſche Ritterſchaft behaupteten. Jhnen war es vor-
behalten, die lange Dauer des roͤmiſchen Reichs zu beenden
und die Sophienkirche, in welcher faſt 1000 Jahre Chriſtus
und die Heiligen verehrt worden, Allah und dem Prophe-
ten zu weihen. Zu eben der Zeit, wo man in Conſtanz
uͤber religioͤſe Saͤtze ſtritt, wo die Ausſoͤhnung der griechi-
ſchen mit der katholiſchen Kirche ſich zerſchlug, und der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0053" n="43"/>
        <p>Sobald man das Kaik des Hunkjar (wo&#x0364;rtlich Erwu&#x0364;r-<lb/>
ger, Henker, einer der Ehrentitel des Padi&#x017F;chah) erblickte,<lb/>
&#x017F;prang Alles auf, verbarg &#x017F;ich hinter der Fontaine und den<lb/>
Ba&#x0364;umen, und man winkte mir zu, da&#x017F;&#x017F;elbe zu thun. Sul-<lb/>
tan <hi rendition="#g">Mahmud</hi> hat die&#x017F;e Art von Ehrenbezeigung bereits<lb/>
verboten, aber den Rajahs &#x017F;teckt der hundertja&#x0364;hrige Schrek-<lb/>
ken noch tief in den Gliedern.</p>
      </div><lb/>
      <div n="1">
        <head>10.<lb/><hi rendition="#b">Die politi&#x017F;ch-militairi&#x017F;che Lage des osmani&#x017F;chen<lb/>
Reichs im Jahre 1836.</hi></head><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#et">Pera, den 7. April 1836.</hi> </dateline><lb/>
        <p>Es i&#x017F;t lange die Aufgabe abendla&#x0364;ndi&#x017F;cher Heere gewe-<lb/>
&#x017F;en, der osmani&#x017F;chen Macht Schranken zu &#x017F;etzen; heute<lb/>
&#x017F;cheint es die Sorge der europa&#x0364;i&#x017F;chen Politik zu &#x017F;ein, die-<lb/>
&#x017F;em Staat das Da&#x017F;ein zu fri&#x017F;ten.</p><lb/>
        <p>Die Zeit liegt nicht &#x017F;o fern, da man ern&#x017F;tlich fu&#x0364;rchten<lb/>
durfte, der Jslam ko&#x0364;nne in einem großen Theil des Abend-<lb/>
landes die Oberhand gewinnen, wie er im Orient ge&#x017F;iegt.<lb/>
Die Bekenner des Propheten hatten La&#x0364;nder erobert, in<lb/>
welchen das Chri&#x017F;tenthum &#x017F;eit Jahrhunderten Wurzel ge-<lb/>
faßt. Der cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Boden der Apo&#x017F;tel, Corinth und Ephe-<lb/>
&#x017F;us, Nica&#x0364;a, die Stadt der Synoden und Kirchen, wie An-<lb/>
tiochien, Nicomedien und Alexandrien waren ihrer Gewalt<lb/>
unterworfen. Selb&#x017F;t die Wiege des Chri&#x017F;tenthums und<lb/>
das Grab des Erlo&#x0364;&#x017F;ers, Pala&#x0364;&#x017F;tina und Jeru&#x017F;alem, gehorch-<lb/>
ten den Ungla&#x0364;ubigen, welche ihren Be&#x017F;itz gegen die ge&#x017F;ammte<lb/>
abendla&#x0364;ndi&#x017F;che Ritter&#x017F;chaft behaupteten. Jhnen war es vor-<lb/>
behalten, die lange Dauer des ro&#x0364;mi&#x017F;chen Reichs zu beenden<lb/>
und die Sophienkirche, in welcher fa&#x017F;t 1000 Jahre Chri&#x017F;tus<lb/>
und die Heiligen verehrt worden, Allah und dem Prophe-<lb/>
ten zu weihen. Zu eben der Zeit, wo man in Con&#x017F;tanz<lb/>
u&#x0364;ber religio&#x0364;&#x017F;e Sa&#x0364;tze &#x017F;tritt, wo die Aus&#x017F;o&#x0364;hnung der griechi-<lb/>
&#x017F;chen mit der katholi&#x017F;chen Kirche &#x017F;ich zer&#x017F;chlug, und der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0053] Sobald man das Kaik des Hunkjar (woͤrtlich Erwuͤr- ger, Henker, einer der Ehrentitel des Padiſchah) erblickte, ſprang Alles auf, verbarg ſich hinter der Fontaine und den Baͤumen, und man winkte mir zu, daſſelbe zu thun. Sul- tan Mahmud hat dieſe Art von Ehrenbezeigung bereits verboten, aber den Rajahs ſteckt der hundertjaͤhrige Schrek- ken noch tief in den Gliedern. 10. Die politiſch-militairiſche Lage des osmaniſchen Reichs im Jahre 1836. Pera, den 7. April 1836. Es iſt lange die Aufgabe abendlaͤndiſcher Heere gewe- ſen, der osmaniſchen Macht Schranken zu ſetzen; heute ſcheint es die Sorge der europaͤiſchen Politik zu ſein, die- ſem Staat das Daſein zu friſten. Die Zeit liegt nicht ſo fern, da man ernſtlich fuͤrchten durfte, der Jslam koͤnne in einem großen Theil des Abend- landes die Oberhand gewinnen, wie er im Orient geſiegt. Die Bekenner des Propheten hatten Laͤnder erobert, in welchen das Chriſtenthum ſeit Jahrhunderten Wurzel ge- faßt. Der claſſiſche Boden der Apoſtel, Corinth und Ephe- ſus, Nicaͤa, die Stadt der Synoden und Kirchen, wie An- tiochien, Nicomedien und Alexandrien waren ihrer Gewalt unterworfen. Selbſt die Wiege des Chriſtenthums und das Grab des Erloͤſers, Palaͤſtina und Jeruſalem, gehorch- ten den Unglaͤubigen, welche ihren Beſitz gegen die geſammte abendlaͤndiſche Ritterſchaft behaupteten. Jhnen war es vor- behalten, die lange Dauer des roͤmiſchen Reichs zu beenden und die Sophienkirche, in welcher faſt 1000 Jahre Chriſtus und die Heiligen verehrt worden, Allah und dem Prophe- ten zu weihen. Zu eben der Zeit, wo man in Conſtanz uͤber religioͤſe Saͤtze ſtritt, wo die Ausſoͤhnung der griechi- ſchen mit der katholiſchen Kirche ſich zerſchlug, und der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/53
Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/53>, abgerufen am 02.05.2024.