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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

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Vaters mit irgend einer Sclavin, und sein Todfeind; selbst
wenn er ihm das Leben hätte schenken wollen, so würde er
es gegen den Willen des empörten Volkes nicht vermogt
haben. Jndem Mahmud nachgab, opferte er den Musta-
pha seiner Sicherheit, und war der letzte und einzige noch
übrige Sprößling vom Stamme Osmans.

Die Regierungsperiode Sultan Mahmuds ist bezeich-
net durch das Erwachen zum Selbstbewußtsein der christ-
lichen Völkerschaften, welche seit Jahrhunderten unter dem
Drucke der Türken-Herrschaft geschmachtet, und der neun-
undzwanzigste Enkel Osmans büßte für das Unrecht sei-
ner Vorfahren. Die Rajahs in Serbien, Moldau, Wal-
lachei und Hellas griffen zu den Waffen; unter den Mos-
lem selbst tauchte eine puritanische Secte (die Wechabiten)
feindselig auf; der Erbfeind, der Moskowiter, bedrängte
die Nordgrenzen des Reichs, und die Pascha's von Rume-
lien und Widdin, von Bagdad, Trapezunt und Akre, von
Damaskus und Aleppo, von Batakia und Janina pflanz-
ten einer nach dem andern das Banner der Empörung auf,
während die Hauptstadt selbst von den Meutereien der Ja-
nitscharen unaufhörlich bedroht war.

Die herbe Erfahrung von achtzehn Regierungsjahren
hatte in Sultan Mahmud die innige Ueberzeugung erweckt,
daß er bei den bestehenden Staatseinrichtungen nicht fort-
regieren könne, und daß er Herrschaft und Leben an eine
Umgestaltung der Verhältnisse setzen müsse, zu welcher er
die Muster in den Einrichtungen des glücklichen Abendlan-
des suchte. Wie unvorbereitet er auch die Bahn der Re-
formen betrat, so hatte er gesunden Verstand genug, um
die unabwendbare Nothwendigkeit derselben zu erkennen,
und Muth genug, sie durchzuführen. Zur Erreichung sei-
nes Zwecks gehörte unerläßlich, daß er jede zweite Gewalt
im Umfange des Reichs zu Boden warf und die ganze
Fülle der Macht in seiner Hand vereinte; daß er den Bau-
platz frei machte, bevor er sein neues Gebäude errichtete.
Den ersten Theil seiner großen Aufgabe hat der Sultan

Vaters mit irgend einer Sclavin, und ſein Todfeind; ſelbſt
wenn er ihm das Leben haͤtte ſchenken wollen, ſo wuͤrde er
es gegen den Willen des empoͤrten Volkes nicht vermogt
haben. Jndem Mahmud nachgab, opferte er den Muſta-
pha ſeiner Sicherheit, und war der letzte und einzige noch
uͤbrige Sproͤßling vom Stamme Osmans.

Die Regierungsperiode Sultan Mahmuds iſt bezeich-
net durch das Erwachen zum Selbſtbewußtſein der chriſt-
lichen Voͤlkerſchaften, welche ſeit Jahrhunderten unter dem
Drucke der Tuͤrken-Herrſchaft geſchmachtet, und der neun-
undzwanzigſte Enkel Osmans buͤßte fuͤr das Unrecht ſei-
ner Vorfahren. Die Rajahs in Serbien, Moldau, Wal-
lachei und Hellas griffen zu den Waffen; unter den Mos-
lem ſelbſt tauchte eine puritaniſche Secte (die Wechabiten)
feindſelig auf; der Erbfeind, der Moskowiter, bedraͤngte
die Nordgrenzen des Reichs, und die Paſcha's von Rume-
lien und Widdin, von Bagdad, Trapezunt und Akre, von
Damaskus und Aleppo, von Batakia und Janina pflanz-
ten einer nach dem andern das Banner der Empoͤrung auf,
waͤhrend die Hauptſtadt ſelbſt von den Meutereien der Ja-
nitſcharen unaufhoͤrlich bedroht war.

Die herbe Erfahrung von achtzehn Regierungsjahren
hatte in Sultan Mahmud die innige Ueberzeugung erweckt,
daß er bei den beſtehenden Staatseinrichtungen nicht fort-
regieren koͤnne, und daß er Herrſchaft und Leben an eine
Umgeſtaltung der Verhaͤltniſſe ſetzen muͤſſe, zu welcher er
die Muſter in den Einrichtungen des gluͤcklichen Abendlan-
des ſuchte. Wie unvorbereitet er auch die Bahn der Re-
formen betrat, ſo hatte er geſunden Verſtand genug, um
die unabwendbare Nothwendigkeit derſelben zu erkennen,
und Muth genug, ſie durchzufuͤhren. Zur Erreichung ſei-
nes Zwecks gehoͤrte unerlaͤßlich, daß er jede zweite Gewalt
im Umfange des Reichs zu Boden warf und die ganze
Fuͤlle der Macht in ſeiner Hand vereinte; daß er den Bau-
platz frei machte, bevor er ſein neues Gebaͤude errichtete.
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[410/0420] Vaters mit irgend einer Sclavin, und ſein Todfeind; ſelbſt wenn er ihm das Leben haͤtte ſchenken wollen, ſo wuͤrde er es gegen den Willen des empoͤrten Volkes nicht vermogt haben. Jndem Mahmud nachgab, opferte er den Muſta- pha ſeiner Sicherheit, und war der letzte und einzige noch uͤbrige Sproͤßling vom Stamme Osmans. Die Regierungsperiode Sultan Mahmuds iſt bezeich- net durch das Erwachen zum Selbſtbewußtſein der chriſt- lichen Voͤlkerſchaften, welche ſeit Jahrhunderten unter dem Drucke der Tuͤrken-Herrſchaft geſchmachtet, und der neun- undzwanzigſte Enkel Osmans buͤßte fuͤr das Unrecht ſei- ner Vorfahren. Die Rajahs in Serbien, Moldau, Wal- lachei und Hellas griffen zu den Waffen; unter den Mos- lem ſelbſt tauchte eine puritaniſche Secte (die Wechabiten) feindſelig auf; der Erbfeind, der Moskowiter, bedraͤngte die Nordgrenzen des Reichs, und die Paſcha's von Rume- lien und Widdin, von Bagdad, Trapezunt und Akre, von Damaskus und Aleppo, von Batakia und Janina pflanz- ten einer nach dem andern das Banner der Empoͤrung auf, waͤhrend die Hauptſtadt ſelbſt von den Meutereien der Ja- nitſcharen unaufhoͤrlich bedroht war. Die herbe Erfahrung von achtzehn Regierungsjahren hatte in Sultan Mahmud die innige Ueberzeugung erweckt, daß er bei den beſtehenden Staatseinrichtungen nicht fort- regieren koͤnne, und daß er Herrſchaft und Leben an eine Umgeſtaltung der Verhaͤltniſſe ſetzen muͤſſe, zu welcher er die Muſter in den Einrichtungen des gluͤcklichen Abendlan- des ſuchte. Wie unvorbereitet er auch die Bahn der Re- formen betrat, ſo hatte er geſunden Verſtand genug, um die unabwendbare Nothwendigkeit derſelben zu erkennen, und Muth genug, ſie durchzufuͤhren. Zur Erreichung ſei- nes Zwecks gehoͤrte unerlaͤßlich, daß er jede zweite Gewalt im Umfange des Reichs zu Boden warf und die ganze Fuͤlle der Macht in ſeiner Hand vereinte; daß er den Bau- platz frei machte, bevor er ſein neues Gebaͤude errichtete. Den erſten Theil ſeiner großen Aufgabe hat der Sultan

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Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/420>, abgerufen am 05.05.2024.