die ganze männliche Bevölkerung in die Berge geflohen, und man sah nur Greise und Kinder in den Straßen.
Der Fehler liegt auch hier in der ungleichen Verthei- lung und in der zu langen Dienstzeit; funfzehnjährige Dienst- dauer ist nur ein anderer Ausdruck für lebenswierige. Die Kurden heirathen früh; sich dann von Frau und Kind und Heimath auf immer zu trennen, ist ein Loos, dem sie sich durch Flucht oder Gegenwehr zu entziehen suchen. Jetzt, wo das Schicksal Regimenter in die kurdischen Berge führt, welche zur Hälfte aus Kurden bestehen, strömen von allen Seiten Männer und Frauen herbei, um Kinder, Verwandte und Freunde noch einmal zu umarmen, die sie schon auf- geben; aber morgen bricht das Lager auf, und es ist wie- der ein Abschied für's Leben.
Kein Wunder also, wenn dichte Postenketten das La- ger umstellen, welche das Antlitz nicht gegen den Feind, sondern gegen die eigenen Truppen kehren; kein Wunder, wenn trotz eines Kopfgeldes von 250 Piastern täglich Sol- daten entfliehen. So lange ich bei den Truppen bin, habe ich kaum einen Schlag austheilen sehen, außer für Deser- tion; der Ausreißer nimmt seine 200 Streiche mit stum- mer Ergebung hin, und erwartet nur die nächste Gelegen- heit, um wieder zu entspringen.
Diesem großen Uebel könnte abgeholfen werden, wenn mehrere Jndividuen auf kürzere Dienstzeit herangezogen wür- den. Jch weiß wohl, daß fünfjährige Dienstdauer in Kon- stantinopel decretirt ist, aber ehe die Dorfschaften nicht mit eigenen Augen entlassene Soldaten in ihre Heimath zurück- kehren sehen, ist das ohne Einfluß, und bis jetzt ist, so lange Nisam oder Linientruppen existiren, noch nie ein Sol- dat entlassen.
So lange freilich der status quo, welcher dem Kriegs- zustand fast gleichzusetzen ist, fortdauert, würde die Pforte aus der vorgeschlagenen neuen Einrichtung wenig Nutzen ziehen, da sie die Retiffs nicht entlassen kann. Alle Be- trachtungen führen auf den Punkt zurück, daß Friede der
die ganze maͤnnliche Bevoͤlkerung in die Berge geflohen, und man ſah nur Greiſe und Kinder in den Straßen.
Der Fehler liegt auch hier in der ungleichen Verthei- lung und in der zu langen Dienſtzeit; funfzehnjaͤhrige Dienſt- dauer iſt nur ein anderer Ausdruck fuͤr lebenswierige. Die Kurden heirathen fruͤh; ſich dann von Frau und Kind und Heimath auf immer zu trennen, iſt ein Loos, dem ſie ſich durch Flucht oder Gegenwehr zu entziehen ſuchen. Jetzt, wo das Schickſal Regimenter in die kurdiſchen Berge fuͤhrt, welche zur Haͤlfte aus Kurden beſtehen, ſtroͤmen von allen Seiten Maͤnner und Frauen herbei, um Kinder, Verwandte und Freunde noch einmal zu umarmen, die ſie ſchon auf- geben; aber morgen bricht das Lager auf, und es iſt wie- der ein Abſchied fuͤr's Leben.
Kein Wunder alſo, wenn dichte Poſtenketten das La- ger umſtellen, welche das Antlitz nicht gegen den Feind, ſondern gegen die eigenen Truppen kehren; kein Wunder, wenn trotz eines Kopfgeldes von 250 Piaſtern taͤglich Sol- daten entfliehen. So lange ich bei den Truppen bin, habe ich kaum einen Schlag austheilen ſehen, außer fuͤr Deſer- tion; der Ausreißer nimmt ſeine 200 Streiche mit ſtum- mer Ergebung hin, und erwartet nur die naͤchſte Gelegen- heit, um wieder zu entſpringen.
Dieſem großen Uebel koͤnnte abgeholfen werden, wenn mehrere Jndividuen auf kuͤrzere Dienſtzeit herangezogen wuͤr- den. Jch weiß wohl, daß fuͤnfjaͤhrige Dienſtdauer in Kon- ſtantinopel decretirt iſt, aber ehe die Dorfſchaften nicht mit eigenen Augen entlaſſene Soldaten in ihre Heimath zuruͤck- kehren ſehen, iſt das ohne Einfluß, und bis jetzt iſt, ſo lange Niſam oder Linientruppen exiſtiren, noch nie ein Sol- dat entlaſſen.
So lange freilich der status quo, welcher dem Kriegs- zuſtand faſt gleichzuſetzen iſt, fortdauert, wuͤrde die Pforte aus der vorgeſchlagenen neuen Einrichtung wenig Nutzen ziehen, da ſie die Retiffs nicht entlaſſen kann. Alle Be- trachtungen fuͤhren auf den Punkt zuruͤck, daß Friede der
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die ganze maͤnnliche Bevoͤlkerung in die Berge geflohen,
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Der Fehler liegt auch hier in der ungleichen Verthei-
lung und in der zu langen Dienſtzeit; funfzehnjaͤhrige Dienſt-
dauer iſt nur ein anderer Ausdruck fuͤr lebenswierige. Die
Kurden heirathen fruͤh; ſich dann von Frau und Kind und
Heimath auf immer zu trennen, iſt ein Loos, dem ſie ſich
durch Flucht oder Gegenwehr zu entziehen ſuchen. Jetzt,
wo das Schickſal Regimenter in die kurdiſchen Berge fuͤhrt,
welche zur Haͤlfte aus Kurden beſtehen, ſtroͤmen von allen
Seiten Maͤnner und Frauen herbei, um Kinder, Verwandte
und Freunde noch einmal zu umarmen, die ſie ſchon auf-
geben; aber morgen bricht das Lager auf, und es iſt wie-
der ein Abſchied fuͤr's Leben.
Kein Wunder alſo, wenn dichte Poſtenketten das La-
ger umſtellen, welche das Antlitz nicht gegen den Feind,
ſondern gegen die eigenen Truppen kehren; kein Wunder,
wenn trotz eines Kopfgeldes von 250 Piaſtern taͤglich Sol-
daten entfliehen. So lange ich bei den Truppen bin, habe
ich kaum einen Schlag austheilen ſehen, außer fuͤr Deſer-
tion; der Ausreißer nimmt ſeine 200 Streiche mit ſtum-
mer Ergebung hin, und erwartet nur die naͤchſte Gelegen-
heit, um wieder zu entſpringen.
Dieſem großen Uebel koͤnnte abgeholfen werden, wenn
mehrere Jndividuen auf kuͤrzere Dienſtzeit herangezogen wuͤr-
den. Jch weiß wohl, daß fuͤnfjaͤhrige Dienſtdauer in Kon-
ſtantinopel decretirt iſt, aber ehe die Dorfſchaften nicht mit
eigenen Augen entlaſſene Soldaten in ihre Heimath zuruͤck-
kehren ſehen, iſt das ohne Einfluß, und bis jetzt iſt, ſo
lange Niſam oder Linientruppen exiſtiren, noch nie ein Sol-
dat entlaſſen.
So lange freilich der status quo, welcher dem Kriegs-
zuſtand faſt gleichzuſetzen iſt, fortdauert, wuͤrde die Pforte
aus der vorgeſchlagenen neuen Einrichtung wenig Nutzen
ziehen, da ſie die Retiffs nicht entlaſſen kann. Alle Be-
trachtungen fuͤhren auf den Punkt zuruͤck, daß Friede der
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/293>, abgerufen am 27.11.2024.
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