Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

arbeiten, da der ganze Pfad staffelförmig ausgetreten war.
Erst spät erreichten wir Jeni-hann, und am gestrigen Nach-
mittag Siwas nach einem höchst beschwerlichen Marsch im
Schritt.

Wenn man bedenkt, daß wir uns in der Mitte März
und unterm 41sten Breitengrade befinden, so sollte man eine
solche Winterlandschaft nicht erwarten; das weite, frucht-
bare aber wenig angebaute Thal des Kisil-Jrmak, so wie
die nahen Hügel und fernen Berge sind dicht mit Schnee
überlagert, so weit das Auge reicht; nur schroffe Felspar-
thien lösen sich aus der einförmig weißen Decke ab, denn
Bäume giebt es nicht. Jn der Mitte dieser Oede liegt
Siwas von stattlichem Ansehn, mit Kuppeln, Minarehs
und alten Thürmen, eine Citadelle auf einem Hügel, eine
zweite mitten in der Stadt. Die Häuser haben statt der
Dächer flache Erddecken.

Aber so viel Schmutz habe ich noch nie beisammen ge-
sehen, wie hier; der Schnee liegt 10 Fuß tief in den Stra-
ßen, und kaum hat man an einer Seite einen engen Gang
gebahnt, in den die Pferde bis an die Gurte einsinken.
Wie überhaupt unsere Packpferde von Tokat aus, wenige
Stunden nach uns, haben ankommen können, ist fast nicht
zu begreifen. Heute früh, da wir doch einmal nicht wei-
ter konnten, besahen wir die merkwürdigen Ruinen in der
untern Citadelle; nie, auch in keiner gothischen Kirche, habe
ich solchen Reichthum an Skulptur gesehen, wie in der
Facade der dortigen Moschee; jeder Stein ist kunstvoll ge-
schnitten. Das Portal ist Alles, was man Zierliches,
Pracht- und Geschmackvolles sehen kann; Blumengewinde,
Blätter und Arabesken bedecken jede Fläche, und doch macht
das Ganze einen höchst harmonischen Eindruck. Die Leute
sagen, es sei persische Arbeit; sie mag wohl noch vor der
Zeit der Seldschucken ausgeführt sein, und mit den schö-
nen Gebäuden des südlichen Spaniens gleichen Ursprung
haben. Auch ein Tekie oder Derwisch-Kloster sahen wir,
neben welchem sich ein sehr sehenswerther runder Thurm

arbeiten, da der ganze Pfad ſtaffelfoͤrmig ausgetreten war.
Erſt ſpaͤt erreichten wir Jeni-hann, und am geſtrigen Nach-
mittag Siwas nach einem hoͤchſt beſchwerlichen Marſch im
Schritt.

Wenn man bedenkt, daß wir uns in der Mitte Maͤrz
und unterm 41ſten Breitengrade befinden, ſo ſollte man eine
ſolche Winterlandſchaft nicht erwarten; das weite, frucht-
bare aber wenig angebaute Thal des Kiſil-Jrmak, ſo wie
die nahen Huͤgel und fernen Berge ſind dicht mit Schnee
uͤberlagert, ſo weit das Auge reicht; nur ſchroffe Felspar-
thien loͤſen ſich aus der einfoͤrmig weißen Decke ab, denn
Baͤume giebt es nicht. Jn der Mitte dieſer Oede liegt
Siwas von ſtattlichem Anſehn, mit Kuppeln, Minarehs
und alten Thuͤrmen, eine Citadelle auf einem Huͤgel, eine
zweite mitten in der Stadt. Die Haͤuſer haben ſtatt der
Daͤcher flache Erddecken.

Aber ſo viel Schmutz habe ich noch nie beiſammen ge-
ſehen, wie hier; der Schnee liegt 10 Fuß tief in den Stra-
ßen, und kaum hat man an einer Seite einen engen Gang
gebahnt, in den die Pferde bis an die Gurte einſinken.
Wie uͤberhaupt unſere Packpferde von Tokat aus, wenige
Stunden nach uns, haben ankommen koͤnnen, iſt faſt nicht
zu begreifen. Heute fruͤh, da wir doch einmal nicht wei-
ter konnten, beſahen wir die merkwuͤrdigen Ruinen in der
untern Citadelle; nie, auch in keiner gothiſchen Kirche, habe
ich ſolchen Reichthum an Skulptur geſehen, wie in der
Façade der dortigen Moſchee; jeder Stein iſt kunſtvoll ge-
ſchnitten. Das Portal iſt Alles, was man Zierliches,
Pracht- und Geſchmackvolles ſehen kann; Blumengewinde,
Blaͤtter und Arabesken bedecken jede Flaͤche, und doch macht
das Ganze einen hoͤchſt harmoniſchen Eindruck. Die Leute
ſagen, es ſei perſiſche Arbeit; ſie mag wohl noch vor der
Zeit der Seldſchucken ausgefuͤhrt ſein, und mit den ſchoͤ-
nen Gebaͤuden des ſuͤdlichen Spaniens gleichen Urſprung
haben. Auch ein Tekie oder Derwiſch-Kloſter ſahen wir,
neben welchem ſich ein ſehr ſehenswerther runder Thurm

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0218" n="208"/>
arbeiten, da der ganze Pfad &#x017F;taffelfo&#x0364;rmig ausgetreten war.<lb/>
Er&#x017F;t &#x017F;pa&#x0364;t erreichten wir Jeni-hann, und am ge&#x017F;trigen Nach-<lb/>
mittag Siwas nach einem ho&#x0364;ch&#x017F;t be&#x017F;chwerlichen Mar&#x017F;ch im<lb/>
Schritt.</p><lb/>
        <p>Wenn man bedenkt, daß wir uns in der Mitte Ma&#x0364;rz<lb/>
und unterm 41&#x017F;ten Breitengrade befinden, &#x017F;o &#x017F;ollte man eine<lb/>
&#x017F;olche Winterland&#x017F;chaft nicht erwarten; das weite, frucht-<lb/>
bare aber wenig angebaute Thal des Ki&#x017F;il-Jrmak, &#x017F;o wie<lb/>
die nahen Hu&#x0364;gel und fernen Berge &#x017F;ind dicht mit Schnee<lb/>
u&#x0364;berlagert, &#x017F;o weit das Auge reicht; nur &#x017F;chroffe Felspar-<lb/>
thien lo&#x0364;&#x017F;en &#x017F;ich aus der einfo&#x0364;rmig weißen Decke ab, denn<lb/>
Ba&#x0364;ume giebt es nicht. Jn der Mitte die&#x017F;er Oede liegt<lb/>
Siwas von &#x017F;tattlichem An&#x017F;ehn, mit Kuppeln, Minarehs<lb/>
und alten Thu&#x0364;rmen, eine Citadelle auf einem Hu&#x0364;gel, eine<lb/>
zweite mitten in der Stadt. Die Ha&#x0364;u&#x017F;er haben &#x017F;tatt der<lb/>
Da&#x0364;cher flache Erddecken.</p><lb/>
        <p>Aber &#x017F;o viel Schmutz habe ich noch nie bei&#x017F;ammen ge-<lb/>
&#x017F;ehen, wie hier; der Schnee liegt 10 Fuß tief in den Stra-<lb/>
ßen, und kaum hat man an einer Seite einen engen Gang<lb/>
gebahnt, in den die Pferde bis an die Gurte ein&#x017F;inken.<lb/>
Wie u&#x0364;berhaupt un&#x017F;ere Packpferde von Tokat aus, wenige<lb/>
Stunden nach uns, haben ankommen ko&#x0364;nnen, i&#x017F;t fa&#x017F;t nicht<lb/>
zu begreifen. Heute fru&#x0364;h, da wir doch einmal nicht wei-<lb/>
ter konnten, be&#x017F;ahen wir die merkwu&#x0364;rdigen Ruinen in der<lb/>
untern Citadelle; nie, auch in keiner gothi&#x017F;chen Kirche, habe<lb/>
ich &#x017F;olchen Reichthum an Skulptur ge&#x017F;ehen, wie in der<lb/>
Fa<hi rendition="#aq">ç</hi>ade der dortigen Mo&#x017F;chee; jeder Stein i&#x017F;t kun&#x017F;tvoll ge-<lb/>
&#x017F;chnitten. Das Portal i&#x017F;t Alles, was man Zierliches,<lb/>
Pracht- und Ge&#x017F;chmackvolles &#x017F;ehen kann; Blumengewinde,<lb/>
Bla&#x0364;tter und Arabesken bedecken jede Fla&#x0364;che, und doch macht<lb/>
das Ganze einen ho&#x0364;ch&#x017F;t harmoni&#x017F;chen Eindruck. Die Leute<lb/>
&#x017F;agen, es &#x017F;ei per&#x017F;i&#x017F;che Arbeit; &#x017F;ie mag wohl noch vor der<lb/>
Zeit der Seld&#x017F;chucken ausgefu&#x0364;hrt &#x017F;ein, und mit den &#x017F;cho&#x0364;-<lb/>
nen Geba&#x0364;uden des &#x017F;u&#x0364;dlichen Spaniens gleichen Ur&#x017F;prung<lb/>
haben. Auch ein Tekie oder Derwi&#x017F;ch-Klo&#x017F;ter &#x017F;ahen wir,<lb/>
neben welchem &#x017F;ich ein &#x017F;ehr &#x017F;ehenswerther runder Thurm<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[208/0218] arbeiten, da der ganze Pfad ſtaffelfoͤrmig ausgetreten war. Erſt ſpaͤt erreichten wir Jeni-hann, und am geſtrigen Nach- mittag Siwas nach einem hoͤchſt beſchwerlichen Marſch im Schritt. Wenn man bedenkt, daß wir uns in der Mitte Maͤrz und unterm 41ſten Breitengrade befinden, ſo ſollte man eine ſolche Winterlandſchaft nicht erwarten; das weite, frucht- bare aber wenig angebaute Thal des Kiſil-Jrmak, ſo wie die nahen Huͤgel und fernen Berge ſind dicht mit Schnee uͤberlagert, ſo weit das Auge reicht; nur ſchroffe Felspar- thien loͤſen ſich aus der einfoͤrmig weißen Decke ab, denn Baͤume giebt es nicht. Jn der Mitte dieſer Oede liegt Siwas von ſtattlichem Anſehn, mit Kuppeln, Minarehs und alten Thuͤrmen, eine Citadelle auf einem Huͤgel, eine zweite mitten in der Stadt. Die Haͤuſer haben ſtatt der Daͤcher flache Erddecken. Aber ſo viel Schmutz habe ich noch nie beiſammen ge- ſehen, wie hier; der Schnee liegt 10 Fuß tief in den Stra- ßen, und kaum hat man an einer Seite einen engen Gang gebahnt, in den die Pferde bis an die Gurte einſinken. Wie uͤberhaupt unſere Packpferde von Tokat aus, wenige Stunden nach uns, haben ankommen koͤnnen, iſt faſt nicht zu begreifen. Heute fruͤh, da wir doch einmal nicht wei- ter konnten, beſahen wir die merkwuͤrdigen Ruinen in der untern Citadelle; nie, auch in keiner gothiſchen Kirche, habe ich ſolchen Reichthum an Skulptur geſehen, wie in der Façade der dortigen Moſchee; jeder Stein iſt kunſtvoll ge- ſchnitten. Das Portal iſt Alles, was man Zierliches, Pracht- und Geſchmackvolles ſehen kann; Blumengewinde, Blaͤtter und Arabesken bedecken jede Flaͤche, und doch macht das Ganze einen hoͤchſt harmoniſchen Eindruck. Die Leute ſagen, es ſei perſiſche Arbeit; ſie mag wohl noch vor der Zeit der Seldſchucken ausgefuͤhrt ſein, und mit den ſchoͤ- nen Gebaͤuden des ſuͤdlichen Spaniens gleichen Urſprung haben. Auch ein Tekie oder Derwiſch-Kloſter ſahen wir, neben welchem ſich ein ſehr ſehenswerther runder Thurm

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/218
Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/218>, abgerufen am 03.05.2024.