Jch führe Dich jetzt an den nördlichen Rand des Thurms, von wo aus der staunende Blick die Ufer des Bosphor bis zum "Riesenberg" (Juscha-Dagh) verfolgt; wie ein mäch- tiger Strom windet die Meerenge sich zwischen lauter zu- sammenhängenden Ortschaften, zwischen Pallästen, Moscheen, Kiosken und Schlössern hindurch, zwei Meere verbindend und zwei Welttheile trennend. Sie bildet eigentlich die Hauptstraße von Konstantinopel, wenn man unter dieser Benennung das ganze Aggregat von Städten, Vorstädten und Ortschaften versteht, in welchen 800,000 Menschen dicht beisammen wohnen. Gegen den Bosphor sind die Haupt- facaden der türkischen Sommerwohnungen (Jalys) gewen- det, und der Rajah strebt, wenigstens ein paar Fuß breit Raum für sein Haus oder sein Gärtchen unmittelbar an seinen Fluten zu behaupten. Dort auf der asiatischen Seite leuchtet neben der reizenden Moschee von Beglerbey der Sommerpallast von Starros, auf der europäischen Beschik- tasch, welches der Sultan des Winters bewohnt, und Tschi- ragan, welches noch im Bau und alle übrigen an Ausdeh- nung übertrifft; dort ziehen die mächtigen Schiffe hinauf, die weißen baumwollenen Seegel werden eins über das andere gethürmt, um jeden Hauch des Südwinds aufzu- fangen, welchen ganze Flotten auf einmal benutzen, um die starke Strömung zu überwinden. Unabhängig vom Winde brausen die Dampfschiffe einher; die langen Rauchstreifen erheben sich am wolkenlosen Himmel, und die Bergufer er- tönen von den schnellen Schlägen ihrer Räder; unbeweg- lich, in langen Reihen, ruhen hier die gewaltigen Kriegs- schiffe, aus drei Reihen von Feuerschlünden drohend. Jhre stolzen Maste tragen die rothe Flagge mit dem Halbmond hoch in die blaue Luft. Aber Tausende, ja viele Tausende von leichten Nachen durchkreuzen schnell und geschäftig in allen Richtungen diese majestätische Hauptstraße.
Und doch darfst Du nur zehn Schritte weiter links gehen, so blickst Du, statt in diese Scene des regsten Le- bens und Treibens, hinaus in eine menschenleere Einöde.
Jch fuͤhre Dich jetzt an den noͤrdlichen Rand des Thurms, von wo aus der ſtaunende Blick die Ufer des Bosphor bis zum „Rieſenberg“ (Juſcha-Dagh) verfolgt; wie ein maͤch- tiger Strom windet die Meerenge ſich zwiſchen lauter zu- ſammenhaͤngenden Ortſchaften, zwiſchen Pallaͤſten, Moſcheen, Kiosken und Schloͤſſern hindurch, zwei Meere verbindend und zwei Welttheile trennend. Sie bildet eigentlich die Hauptſtraße von Konſtantinopel, wenn man unter dieſer Benennung das ganze Aggregat von Staͤdten, Vorſtaͤdten und Ortſchaften verſteht, in welchen 800,000 Menſchen dicht beiſammen wohnen. Gegen den Bosphor ſind die Haupt- façaden der tuͤrkiſchen Sommerwohnungen (Jalys) gewen- det, und der Rajah ſtrebt, wenigſtens ein paar Fuß breit Raum fuͤr ſein Haus oder ſein Gaͤrtchen unmittelbar an ſeinen Fluten zu behaupten. Dort auf der aſiatiſchen Seite leuchtet neben der reizenden Moſchee von Beglerbey der Sommerpallaſt von Starros, auf der europaͤiſchen Beſchik- taſch, welches der Sultan des Winters bewohnt, und Tſchi- ragan, welches noch im Bau und alle uͤbrigen an Ausdeh- nung uͤbertrifft; dort ziehen die maͤchtigen Schiffe hinauf, die weißen baumwollenen Seegel werden eins uͤber das andere gethuͤrmt, um jeden Hauch des Suͤdwinds aufzu- fangen, welchen ganze Flotten auf einmal benutzen, um die ſtarke Stroͤmung zu uͤberwinden. Unabhaͤngig vom Winde brauſen die Dampfſchiffe einher; die langen Rauchſtreifen erheben ſich am wolkenloſen Himmel, und die Bergufer er- toͤnen von den ſchnellen Schlaͤgen ihrer Raͤder; unbeweg- lich, in langen Reihen, ruhen hier die gewaltigen Kriegs- ſchiffe, aus drei Reihen von Feuerſchluͤnden drohend. Jhre ſtolzen Maſte tragen die rothe Flagge mit dem Halbmond hoch in die blaue Luft. Aber Tauſende, ja viele Tauſende von leichten Nachen durchkreuzen ſchnell und geſchaͤftig in allen Richtungen dieſe majeſtaͤtiſche Hauptſtraße.
Und doch darfſt Du nur zehn Schritte weiter links gehen, ſo blickſt Du, ſtatt in dieſe Scene des regſten Le- bens und Treibens, hinaus in eine menſchenleere Einoͤde.
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Jch fuͤhre Dich jetzt an den noͤrdlichen Rand des Thurms,
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zum „Rieſenberg“ (Juſcha-Dagh) verfolgt; wie ein maͤch-
tiger Strom windet die Meerenge ſich zwiſchen lauter zu-
ſammenhaͤngenden Ortſchaften, zwiſchen Pallaͤſten, Moſcheen,
Kiosken und Schloͤſſern hindurch, zwei Meere verbindend
und zwei Welttheile trennend. Sie bildet eigentlich die
Hauptſtraße von Konſtantinopel, wenn man unter dieſer
Benennung das ganze Aggregat von Staͤdten, Vorſtaͤdten
und Ortſchaften verſteht, in welchen 800,000 Menſchen dicht
beiſammen wohnen. Gegen den Bosphor ſind die Haupt-
façaden der tuͤrkiſchen Sommerwohnungen (Jalys) gewen-
det, und der Rajah ſtrebt, wenigſtens ein paar Fuß breit
Raum fuͤr ſein Haus oder ſein Gaͤrtchen unmittelbar an
ſeinen Fluten zu behaupten. Dort auf der aſiatiſchen Seite
leuchtet neben der reizenden Moſchee von Beglerbey der
Sommerpallaſt von Starros, auf der europaͤiſchen Beſchik-
taſch, welches der Sultan des Winters bewohnt, und Tſchi-
ragan, welches noch im Bau und alle uͤbrigen an Ausdeh-
nung uͤbertrifft; dort ziehen die maͤchtigen Schiffe hinauf,
die weißen baumwollenen Seegel werden eins uͤber das
andere gethuͤrmt, um jeden Hauch des Suͤdwinds aufzu-
fangen, welchen ganze Flotten auf einmal benutzen, um die
ſtarke Stroͤmung zu uͤberwinden. Unabhaͤngig vom Winde
brauſen die Dampfſchiffe einher; die langen Rauchſtreifen
erheben ſich am wolkenloſen Himmel, und die Bergufer er-
toͤnen von den ſchnellen Schlaͤgen ihrer Raͤder; unbeweg-
lich, in langen Reihen, ruhen hier die gewaltigen Kriegs-
ſchiffe, aus drei Reihen von Feuerſchluͤnden drohend. Jhre
ſtolzen Maſte tragen die rothe Flagge mit dem Halbmond
hoch in die blaue Luft. Aber Tauſende, ja viele Tauſende
von leichten Nachen durchkreuzen ſchnell und geſchaͤftig in
allen Richtungen dieſe majeſtaͤtiſche Hauptſtraße.
Und doch darfſt Du nur zehn Schritte weiter links
gehen, ſo blickſt Du, ſtatt in dieſe Scene des regſten Le-
bens und Treibens, hinaus in eine menſchenleere Einoͤde.
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/165>, abgerufen am 26.11.2024.
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