Schritte! Von dem östlichen Rande des Umgangs schweift der Blick über die mächtige Vorstadt Scutari (Usküdar), das alte Chrysopolis, welche mit zahllosen Häusern, präch- tigen Moscheen, Bädern und Fontainen amphitheatralisch an einer Höhe emporsteigt, deren Gipfel durch einen schwar- zen Cypressenwald gekrönt ist. Jn der reizendsten Lage am Felsufer des Marmormeeres erhebt sich die ungeheuere Ka- serne für zehntausend Mann und die zierliche Moschee Se- limuje, weiter rechts schimmern die Häuser von Kadiköi, dem alten Chalcedon, dessen Gärten die schroffen Klippen von Moda-Burnu kränzen, und dahinter erstreckt sich ein wunderbar schönes, niedriges Vorgebirge weit in die See, welches von riesenhaften Platanen und Cypressen bestanden ist. Ein kleiner Leuchtthurm auf der äußersten Spitze hat ihm den Namen Fener-Bagtschessi, der "Laternengarten", ge- geben. Näher heran taucht aus der Fluth des Bosphor, da wo er in den Propontis tritt, der phantastisch geformte Mädchenthurm Kiß-Kalessi, den die Europäer, ich weiß nicht warum, Leanderthurm nennen; das wäre ein köst- liches Plätzchen für einen Einsiedler, der mitten im regsten Getümmel des Lebens, umgeben von einer halben Million Menschen, in der tiefsten Abgeschiedenheit verweilen wollte. Drei große Städte blicken auf jenen Thurm, die mächtig- sten Schiffe ziehen dicht an ihm vorüber und zahllose Na- chen umkreisen ihn, aber ohne ihn zu berühren. Mit Ent- setzen wendet sich jedes von diesen Mauern ab, denn sie enthalten ein Pesthospital. Vor Allem aber zieht die Spitze des Serajs den Blick des Beschauers auf sich durch die Schönheit ihrer Form und die ganz besondere Pracht der Farben. Der Bosphor wälzt sich mit Gewalt gerade auf diese durch das goldene Horn und den Propontis gebildete Landzunge; seine Wellen sind hier zu allen Zeiten in hüpfen- der Bewegung, und köstlich zeichnen sich auf diesem tief- blauen Grund und gegen das Schwarz der Cypressen und schattigen Platanen die Marmorkioske mit goldenen Gittern, die weißen Minarehs und hellgrauen Bleikuppeln ab.
Schritte! Von dem oͤſtlichen Rande des Umgangs ſchweift der Blick uͤber die maͤchtige Vorſtadt Scutari (Uskuͤdar), das alte Chryſopolis, welche mit zahlloſen Haͤuſern, praͤch- tigen Moſcheen, Baͤdern und Fontainen amphitheatraliſch an einer Hoͤhe emporſteigt, deren Gipfel durch einen ſchwar- zen Cypreſſenwald gekroͤnt iſt. Jn der reizendſten Lage am Felsufer des Marmormeeres erhebt ſich die ungeheuere Ka- ſerne fuͤr zehntauſend Mann und die zierliche Moſchee Se- limuje, weiter rechts ſchimmern die Haͤuſer von Kadikoͤi, dem alten Chalcedon, deſſen Gaͤrten die ſchroffen Klippen von Moda-Burnu kraͤnzen, und dahinter erſtreckt ſich ein wunderbar ſchoͤnes, niedriges Vorgebirge weit in die See, welches von rieſenhaften Platanen und Cypreſſen beſtanden iſt. Ein kleiner Leuchtthurm auf der aͤußerſten Spitze hat ihm den Namen Fener-Bagtſcheſſi, der „Laternengarten“, ge- geben. Naͤher heran taucht aus der Fluth des Bosphor, da wo er in den Propontis tritt, der phantaſtiſch geformte Maͤdchenthurm Kiß-Kaleſſi, den die Europaͤer, ich weiß nicht warum, Leanderthurm nennen; das waͤre ein koͤſt- liches Plaͤtzchen fuͤr einen Einſiedler, der mitten im regſten Getuͤmmel des Lebens, umgeben von einer halben Million Menſchen, in der tiefſten Abgeſchiedenheit verweilen wollte. Drei große Staͤdte blicken auf jenen Thurm, die maͤchtig- ſten Schiffe ziehen dicht an ihm voruͤber und zahlloſe Na- chen umkreiſen ihn, aber ohne ihn zu beruͤhren. Mit Ent- ſetzen wendet ſich jedes von dieſen Mauern ab, denn ſie enthalten ein Peſthoſpital. Vor Allem aber zieht die Spitze des Serajs den Blick des Beſchauers auf ſich durch die Schoͤnheit ihrer Form und die ganz beſondere Pracht der Farben. Der Bosphor waͤlzt ſich mit Gewalt gerade auf dieſe durch das goldene Horn und den Propontis gebildete Landzunge; ſeine Wellen ſind hier zu allen Zeiten in huͤpfen- der Bewegung, und koͤſtlich zeichnen ſich auf dieſem tief- blauen Grund und gegen das Schwarz der Cypreſſen und ſchattigen Platanen die Marmorkioske mit goldenen Gittern, die weißen Minarehs und hellgrauen Bleikuppeln ab.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0164"n="154"/>
Schritte! Von dem oͤſtlichen Rande des Umgangs ſchweift<lb/>
der Blick uͤber die maͤchtige Vorſtadt Scutari (Uskuͤdar),<lb/>
das alte Chryſopolis, welche mit zahlloſen Haͤuſern, praͤch-<lb/>
tigen Moſcheen, Baͤdern und Fontainen amphitheatraliſch<lb/>
an einer Hoͤhe emporſteigt, deren Gipfel durch einen ſchwar-<lb/>
zen Cypreſſenwald gekroͤnt iſt. Jn der reizendſten Lage am<lb/>
Felsufer des Marmormeeres erhebt ſich die ungeheuere Ka-<lb/>ſerne fuͤr zehntauſend Mann und die zierliche Moſchee Se-<lb/>
limuje, weiter rechts ſchimmern die Haͤuſer von Kadikoͤi,<lb/>
dem alten Chalcedon, deſſen Gaͤrten die ſchroffen Klippen<lb/>
von Moda-Burnu kraͤnzen, und dahinter erſtreckt ſich ein<lb/>
wunderbar ſchoͤnes, niedriges Vorgebirge weit in die See,<lb/>
welches von rieſenhaften Platanen und Cypreſſen beſtanden<lb/>
iſt. Ein kleiner Leuchtthurm auf der aͤußerſten Spitze hat<lb/>
ihm den Namen Fener-Bagtſcheſſi, der „Laternengarten“, ge-<lb/>
geben. Naͤher heran taucht aus der Fluth des Bosphor,<lb/>
da wo er in den Propontis tritt, der phantaſtiſch geformte<lb/>
Maͤdchenthurm Kiß-Kaleſſi, den die Europaͤer, ich weiß<lb/>
nicht warum, Leanderthurm nennen; das waͤre ein koͤſt-<lb/>
liches Plaͤtzchen fuͤr einen Einſiedler, der mitten im regſten<lb/>
Getuͤmmel des Lebens, umgeben von einer halben Million<lb/>
Menſchen, in der tiefſten Abgeſchiedenheit verweilen wollte.<lb/>
Drei große Staͤdte blicken auf jenen Thurm, die maͤchtig-<lb/>ſten Schiffe ziehen dicht an ihm voruͤber und zahlloſe Na-<lb/>
chen umkreiſen ihn, aber ohne ihn zu beruͤhren. Mit Ent-<lb/>ſetzen wendet ſich jedes von dieſen Mauern ab, denn ſie<lb/>
enthalten ein Peſthoſpital. Vor Allem aber zieht die Spitze<lb/>
des Serajs den Blick des Beſchauers auf ſich durch die<lb/>
Schoͤnheit ihrer Form und die ganz beſondere Pracht der<lb/>
Farben. Der Bosphor waͤlzt ſich mit Gewalt gerade auf<lb/>
dieſe durch das goldene Horn und den Propontis gebildete<lb/>
Landzunge; ſeine Wellen ſind hier zu allen Zeiten in huͤpfen-<lb/>
der Bewegung, und koͤſtlich zeichnen ſich auf dieſem tief-<lb/>
blauen Grund und gegen das Schwarz der Cypreſſen und<lb/>ſchattigen Platanen die Marmorkioske mit goldenen Gittern,<lb/>
die weißen Minarehs und hellgrauen Bleikuppeln ab.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[154/0164]
Schritte! Von dem oͤſtlichen Rande des Umgangs ſchweift
der Blick uͤber die maͤchtige Vorſtadt Scutari (Uskuͤdar),
das alte Chryſopolis, welche mit zahlloſen Haͤuſern, praͤch-
tigen Moſcheen, Baͤdern und Fontainen amphitheatraliſch
an einer Hoͤhe emporſteigt, deren Gipfel durch einen ſchwar-
zen Cypreſſenwald gekroͤnt iſt. Jn der reizendſten Lage am
Felsufer des Marmormeeres erhebt ſich die ungeheuere Ka-
ſerne fuͤr zehntauſend Mann und die zierliche Moſchee Se-
limuje, weiter rechts ſchimmern die Haͤuſer von Kadikoͤi,
dem alten Chalcedon, deſſen Gaͤrten die ſchroffen Klippen
von Moda-Burnu kraͤnzen, und dahinter erſtreckt ſich ein
wunderbar ſchoͤnes, niedriges Vorgebirge weit in die See,
welches von rieſenhaften Platanen und Cypreſſen beſtanden
iſt. Ein kleiner Leuchtthurm auf der aͤußerſten Spitze hat
ihm den Namen Fener-Bagtſcheſſi, der „Laternengarten“, ge-
geben. Naͤher heran taucht aus der Fluth des Bosphor,
da wo er in den Propontis tritt, der phantaſtiſch geformte
Maͤdchenthurm Kiß-Kaleſſi, den die Europaͤer, ich weiß
nicht warum, Leanderthurm nennen; das waͤre ein koͤſt-
liches Plaͤtzchen fuͤr einen Einſiedler, der mitten im regſten
Getuͤmmel des Lebens, umgeben von einer halben Million
Menſchen, in der tiefſten Abgeſchiedenheit verweilen wollte.
Drei große Staͤdte blicken auf jenen Thurm, die maͤchtig-
ſten Schiffe ziehen dicht an ihm voruͤber und zahlloſe Na-
chen umkreiſen ihn, aber ohne ihn zu beruͤhren. Mit Ent-
ſetzen wendet ſich jedes von dieſen Mauern ab, denn ſie
enthalten ein Peſthoſpital. Vor Allem aber zieht die Spitze
des Serajs den Blick des Beſchauers auf ſich durch die
Schoͤnheit ihrer Form und die ganz beſondere Pracht der
Farben. Der Bosphor waͤlzt ſich mit Gewalt gerade auf
dieſe durch das goldene Horn und den Propontis gebildete
Landzunge; ſeine Wellen ſind hier zu allen Zeiten in huͤpfen-
der Bewegung, und koͤſtlich zeichnen ſich auf dieſem tief-
blauen Grund und gegen das Schwarz der Cypreſſen und
ſchattigen Platanen die Marmorkioske mit goldenen Gittern,
die weißen Minarehs und hellgrauen Bleikuppeln ab.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/164>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.