füllung erst von einer günstigen Gelegenheit und von einem Weiterschreiten der allgemeinen Gesittigung abhängt. Es ist somit nicht nur ein wissenschaftlicher Fehler, sondern auch ein für das bürgerliche Leben bedenkliches Unternehmen, wenn das System eines positiven Völkerrechtes nicht auf die nachweisbar vorhandenen Thatsachen beschränkt, sondern nach einem logischen Ideale ausgeführt und in seinen mangelhaften Theilen mit willkürlichen Behauptungen oder mit blos philosophisch rechtlichen Sätzen ergänzt wird.
Auch das für die Staaten europäischer Gesittigung 2) ge- genwärtig geltende positive Völkerrecht steht vollkommen auf diesen Grundlagen. Es sind, dem Bedürfnisse gemäß, positive Sätze über das gegenseitige rechtliche Verhalten dieser Staaten in größerem Umfange vorhanden; allein sie beruhen sämmtlich nicht auf einer gesetzgebenden Gewalt, sondern nur auf aus- drücklichem oder stillschweigendem Uebereinkommen einer größeren oder kleineren Anzahl von Staaten, sie sind also hinsichtlich ihres Bestands und Umfanges einzeln nachzuweisen, und keines- wegs vollständig erschöpfend. Ein entschiedener Mißgriff ist es, wenn ein Satz über seine gerechtfertigte Tragweite hinaus ver- allgemeinert, also namentlich eine für einen bestimmten einzelnen Fall getroffene Verabredung als eine allgemeine und bleibende, eine von einigen wenigen Staaten ausgesprochene Anerkennung als eine für alle gültige ausgegeben wird.
Die Quellen des positiven europäischen Völkerrechtes sind demgemäß doppelter Art:
1. Ausdrückliche Verträge zwischen europäischen Staa- ten. Dieselben zerfallen wieder in zwei Gattungen von we- sentlich verschiedener Bedeutung für das Recht; nämlich in allgemeine, welche die sämmtlichen europäischen Staaten binden, weil sie sämmtlich, mittelbar oder unmittelbar, an den- selben Antheil genommen und sie anerkannt haben; und
füllung erſt von einer günſtigen Gelegenheit und von einem Weiterſchreiten der allgemeinen Geſittigung abhängt. Es iſt ſomit nicht nur ein wiſſenſchaftlicher Fehler, ſondern auch ein für das bürgerliche Leben bedenkliches Unternehmen, wenn das Syſtem eines poſitiven Völkerrechtes nicht auf die nachweisbar vorhandenen Thatſachen beſchränkt, ſondern nach einem logiſchen Ideale ausgeführt und in ſeinen mangelhaften Theilen mit willkürlichen Behauptungen oder mit blos philoſophiſch rechtlichen Sätzen ergänzt wird.
Auch das für die Staaten europäiſcher Geſittigung 2) ge- genwärtig geltende poſitive Völkerrecht ſteht vollkommen auf dieſen Grundlagen. Es ſind, dem Bedürfniſſe gemäß, poſitive Sätze über das gegenſeitige rechtliche Verhalten dieſer Staaten in größerem Umfange vorhanden; allein ſie beruhen ſämmtlich nicht auf einer geſetzgebenden Gewalt, ſondern nur auf aus- drücklichem oder ſtillſchweigendem Uebereinkommen einer größeren oder kleineren Anzahl von Staaten, ſie ſind alſo hinſichtlich ihres Beſtands und Umfanges einzeln nachzuweiſen, und keines- wegs vollſtändig erſchöpfend. Ein entſchiedener Mißgriff iſt es, wenn ein Satz über ſeine gerechtfertigte Tragweite hinaus ver- allgemeinert, alſo namentlich eine für einen beſtimmten einzelnen Fall getroffene Verabredung als eine allgemeine und bleibende, eine von einigen wenigen Staaten ausgeſprochene Anerkennung als eine für alle gültige ausgegeben wird.
Die Quellen des poſitiven europäiſchen Völkerrechtes ſind demgemäß doppelter Art:
1. Ausdrückliche Verträge zwiſchen europäiſchen Staa- ten. Dieſelben zerfallen wieder in zwei Gattungen von we- ſentlich verſchiedener Bedeutung für das Recht; nämlich in allgemeine, welche die ſämmtlichen europäiſchen Staaten binden, weil ſie ſämmtlich, mittelbar oder unmittelbar, an den- ſelben Antheil genommen und ſie anerkannt haben; und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0476"n="462"/>
füllung erſt von einer günſtigen Gelegenheit und von einem<lb/>
Weiterſchreiten der allgemeinen Geſittigung abhängt. Es iſt<lb/>ſomit nicht nur ein wiſſenſchaftlicher Fehler, ſondern auch ein<lb/>
für das bürgerliche Leben bedenkliches Unternehmen, wenn das<lb/>
Syſtem eines poſitiven Völkerrechtes nicht auf die nachweisbar<lb/>
vorhandenen Thatſachen beſchränkt, ſondern nach einem logiſchen<lb/>
Ideale ausgeführt und in ſeinen mangelhaften Theilen mit<lb/>
willkürlichen Behauptungen oder mit blos philoſophiſch rechtlichen<lb/>
Sätzen ergänzt wird.</p><lb/><p>Auch das für die Staaten europäiſcher Geſittigung <hirendition="#sup">2</hi>) ge-<lb/>
genwärtig geltende poſitive Völkerrecht ſteht vollkommen auf<lb/>
dieſen Grundlagen. Es ſind, dem Bedürfniſſe gemäß, poſitive<lb/>
Sätze über das gegenſeitige rechtliche Verhalten dieſer Staaten<lb/>
in größerem Umfange vorhanden; allein ſie beruhen ſämmtlich<lb/>
nicht auf einer geſetzgebenden Gewalt, ſondern nur auf aus-<lb/>
drücklichem oder ſtillſchweigendem Uebereinkommen einer größeren<lb/>
oder kleineren Anzahl von Staaten, ſie ſind alſo hinſichtlich<lb/>
ihres Beſtands und Umfanges einzeln nachzuweiſen, und keines-<lb/>
wegs vollſtändig erſchöpfend. Ein entſchiedener Mißgriff iſt es,<lb/>
wenn ein Satz über ſeine gerechtfertigte Tragweite hinaus ver-<lb/>
allgemeinert, alſo namentlich eine für einen beſtimmten einzelnen<lb/>
Fall getroffene Verabredung als eine allgemeine und bleibende,<lb/>
eine von einigen wenigen Staaten ausgeſprochene Anerkennung<lb/>
als eine für alle gültige ausgegeben wird.</p><lb/><p>Die Quellen des poſitiven europäiſchen Völkerrechtes ſind<lb/>
demgemäß doppelter Art:</p><lb/><p>1. Ausdrückliche <hirendition="#g">Verträge</hi> zwiſchen europäiſchen Staa-<lb/>
ten. Dieſelben zerfallen wieder in zwei Gattungen von we-<lb/>ſentlich verſchiedener Bedeutung für das Recht; nämlich in<lb/><hirendition="#g">allgemeine</hi>, welche die ſämmtlichen europäiſchen Staaten<lb/>
binden, weil ſie ſämmtlich, mittelbar oder unmittelbar, an den-<lb/>ſelben Antheil genommen und ſie anerkannt haben; und<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[462/0476]
füllung erſt von einer günſtigen Gelegenheit und von einem
Weiterſchreiten der allgemeinen Geſittigung abhängt. Es iſt
ſomit nicht nur ein wiſſenſchaftlicher Fehler, ſondern auch ein
für das bürgerliche Leben bedenkliches Unternehmen, wenn das
Syſtem eines poſitiven Völkerrechtes nicht auf die nachweisbar
vorhandenen Thatſachen beſchränkt, ſondern nach einem logiſchen
Ideale ausgeführt und in ſeinen mangelhaften Theilen mit
willkürlichen Behauptungen oder mit blos philoſophiſch rechtlichen
Sätzen ergänzt wird.
Auch das für die Staaten europäiſcher Geſittigung 2) ge-
genwärtig geltende poſitive Völkerrecht ſteht vollkommen auf
dieſen Grundlagen. Es ſind, dem Bedürfniſſe gemäß, poſitive
Sätze über das gegenſeitige rechtliche Verhalten dieſer Staaten
in größerem Umfange vorhanden; allein ſie beruhen ſämmtlich
nicht auf einer geſetzgebenden Gewalt, ſondern nur auf aus-
drücklichem oder ſtillſchweigendem Uebereinkommen einer größeren
oder kleineren Anzahl von Staaten, ſie ſind alſo hinſichtlich
ihres Beſtands und Umfanges einzeln nachzuweiſen, und keines-
wegs vollſtändig erſchöpfend. Ein entſchiedener Mißgriff iſt es,
wenn ein Satz über ſeine gerechtfertigte Tragweite hinaus ver-
allgemeinert, alſo namentlich eine für einen beſtimmten einzelnen
Fall getroffene Verabredung als eine allgemeine und bleibende,
eine von einigen wenigen Staaten ausgeſprochene Anerkennung
als eine für alle gültige ausgegeben wird.
Die Quellen des poſitiven europäiſchen Völkerrechtes ſind
demgemäß doppelter Art:
1. Ausdrückliche Verträge zwiſchen europäiſchen Staa-
ten. Dieſelben zerfallen wieder in zwei Gattungen von we-
ſentlich verſchiedener Bedeutung für das Recht; nämlich in
allgemeine, welche die ſämmtlichen europäiſchen Staaten
binden, weil ſie ſämmtlich, mittelbar oder unmittelbar, an den-
ſelben Antheil genommen und ſie anerkannt haben; und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/476>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.