Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.Das Glück der Bettler. sich ungescheut wo es ihm juckt; nimmt sich ein Weib undscheidet sich davon unentgeltlich und ohne Proceß; zeugt Kin- der ohne ängstliche Rechnung, wie er sie versorgen will; wohnt und reiset sicher vor Diebe, findet jede Herberge bequem, und überall Brod; leidet nichts im Kriege oder von betriegerischen Freunden; trotzt dem größten Herrn, und ist der ganzen Welt Bürger. Alles was ihm dem Anschein nach fehlt, ist die Delicatesse, oder derjenige zärtliche Eckel, womit wir al- les, was nicht gut aussieht, verschmähen. Allein, wer ist im Grunde der Glücklichste; der Mann, der ein Stück Brod, wenn es gleich sandig ist, vergnügt herunter schlucken kann; oder der Zärtling, der in allen Herbergen hungern muß, weil er seinen Mundkoch nicht bey sich hat? Und wie sehr erwei- tert derjenige nicht die Sphäre seines Vergnügens, der sich jedes Brod wohl schmecken läßt? Wie beschwerlich ist dagegen der Zustand des fleißigen XI. E 5
Das Gluͤck der Bettler. ſich ungeſcheut wo es ihm juckt; nimmt ſich ein Weib undſcheidet ſich davon unentgeltlich und ohne Proceß; zeugt Kin- der ohne aͤngſtliche Rechnung, wie er ſie verſorgen will; wohnt und reiſet ſicher vor Diebe, findet jede Herberge bequem, und uͤberall Brod; leidet nichts im Kriege oder von betriegeriſchen Freunden; trotzt dem groͤßten Herrn, und iſt der ganzen Welt Buͤrger. Alles was ihm dem Anſchein nach fehlt, iſt die Delicateſſe, oder derjenige zaͤrtliche Eckel, womit wir al- les, was nicht gut ausſieht, verſchmaͤhen. Allein, wer iſt im Grunde der Gluͤcklichſte; der Mann, der ein Stuͤck Brod, wenn es gleich ſandig iſt, vergnuͤgt herunter ſchlucken kann; oder der Zaͤrtling, der in allen Herbergen hungern muß, weil er ſeinen Mundkoch nicht bey ſich hat? Und wie ſehr erwei- tert derjenige nicht die Sphaͤre ſeines Vergnuͤgens, der ſich jedes Brod wohl ſchmecken laͤßt? Wie beſchwerlich iſt dagegen der Zuſtand des fleißigen XI. E 5
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Das Gluͤck der Bettler.
ſich ungeſcheut wo es ihm juckt; nimmt ſich ein Weib und
ſcheidet ſich davon unentgeltlich und ohne Proceß; zeugt Kin-
der ohne aͤngſtliche Rechnung, wie er ſie verſorgen will; wohnt
und reiſet ſicher vor Diebe, findet jede Herberge bequem, und
uͤberall Brod; leidet nichts im Kriege oder von betriegeriſchen
Freunden; trotzt dem groͤßten Herrn, und iſt der ganzen
Welt Buͤrger. Alles was ihm dem Anſchein nach fehlt, iſt
die Delicateſſe, oder derjenige zaͤrtliche Eckel, womit wir al-
les, was nicht gut ausſieht, verſchmaͤhen. Allein, wer iſt
im Grunde der Gluͤcklichſte; der Mann, der ein Stuͤck Brod,
wenn es gleich ſandig iſt, vergnuͤgt herunter ſchlucken kann;
oder der Zaͤrtling, der in allen Herbergen hungern muß, weil
er ſeinen Mundkoch nicht bey ſich hat? Und wie ſehr erwei-
tert derjenige nicht die Sphaͤre ſeines Vergnuͤgens, der ſich
jedes Brod wohl ſchmecken laͤßt?
Wie beſchwerlich iſt dagegen der Zuſtand des fleißigen
Arbeiters, der ſich von dem Morgen bis zum Abend quaͤlet,
ſich und ſeine Familie von eignem Schweiſſe zu ernaͤhren? Alle
oͤffentliche Laſten fallen auf ihn. Bey jedem Ueberfall feind-
licher Partheyen muß er zittern. Um ſich in dem noͤthigen
Anſehen und Credit zu erhalten, muß er oft Waſſer und Brod
eſſen, ſeine Naͤchte mit aͤngſtlicher Sorge zubringen, und eine
heimliche Thraͤne nach der andern vergieſſen ..... Wenn
ich ſolchergeſtalt den ehrlichen fleißigen Arbeiter mit dem
Bettler vergleiche: ſo muß ich geſtehen, daß es eine uͤberaus
ſtarke Verſuchung ſey lieber zu betteln als zu arbeiten. Das
einzige was den Bettlern bishero gefehlt, iſt dieſes, daß ihre
Nahrung unruͤhmlich geweſen, und dieſen Fehler will ich
nechſtens abhelfen.
XI.
E 5
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