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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

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Die Frage: Ist es gut, daß die Unterthan.
hältniß gegen einander geboren werden. Nun mögen alle
Hausmütter auftreten, und auf ihr Gewissen bezeugen, GOtt
habe ihnen Töchter und Knaben in ungleicher Anzahl bescheret;
es mögen alle Todtengräber bezeugen, sie hätten mehr oder
weniger Leute von der in ihren Dorf-Gemeinden befindlichen
Anzahl begraben, als nach jener Regel hätten sterben sollen:
so schadet dieses der Rechnung im Großen nichts. Die große
Regel bleibt wahr, wenn sie gleich in der Anwendung auf
jeden einzelnen Fall nicht zutrift.

Nach dieser kurzen Vorerinnerung will ich alles, was
wider die Hollands-Gänger aus diesem Stifte, angeführet
worden, zugestehen. Ich will aber zeigen, daß der Gesichts-
punkt, woraus man die Sache betrachtet, zu nahe an der
Statue genommen; und ein einzelner Fall von diesen oder
jenen Kirchspielen nicht hinlänglich sey, um darnach die Rech-
nung im Großen zu machen. Jedoch noch eins zum voraus.

Es gehen jährlich über zwanzig tausend Franzosen nach
Spanien, um den Spaniern in der Erndte zu helfen. Eben
so viel Brabänder gehen in gleicher Absicht nach Frankreich.
Eine nicht geringere Menge Westphälinger geht den Hollän-
dern und Brabändern zu Hülfe; und mittlerweile kommen
die Schwaben, Thüringer und Baiern nach Westphalen, um
unsre Mauren zu verfertigen; die Italiäner weissen unsre
Kirchen und versorgen uns mit Mausefallen; die Tyroler rei-
nigen unsere Teiche; die Schweizer gehen nach Paris, um
den Franzosen die Thür zu hüten oder die Schuh zu putzen;
und so wandert eine Nation zur andern, um bey ihr des
Sommers ein Stück Brod zu verdienen, was sie des Winters
zu Hause verzehre. Nichts ist hier leichter als zu fragen:
Warum jede Nation nicht zu Hause bleibe, so lange sie noch
Bedürfnisse hat, welche sie durch fremde Hände bestellen las-

sen

Die Frage: Iſt es gut, daß die Unterthan.
haͤltniß gegen einander geboren werden. Nun moͤgen alle
Hausmuͤtter auftreten, und auf ihr Gewiſſen bezeugen, GOtt
habe ihnen Toͤchter und Knaben in ungleicher Anzahl beſcheret;
es moͤgen alle Todtengraͤber bezeugen, ſie haͤtten mehr oder
weniger Leute von der in ihren Dorf-Gemeinden befindlichen
Anzahl begraben, als nach jener Regel haͤtten ſterben ſollen:
ſo ſchadet dieſes der Rechnung im Großen nichts. Die große
Regel bleibt wahr, wenn ſie gleich in der Anwendung auf
jeden einzelnen Fall nicht zutrift.

Nach dieſer kurzen Vorerinnerung will ich alles, was
wider die Hollands-Gaͤnger aus dieſem Stifte, angefuͤhret
worden, zugeſtehen. Ich will aber zeigen, daß der Geſichts-
punkt, woraus man die Sache betrachtet, zu nahe an der
Statue genommen; und ein einzelner Fall von dieſen oder
jenen Kirchſpielen nicht hinlaͤnglich ſey, um darnach die Rech-
nung im Großen zu machen. Jedoch noch eins zum voraus.

Es gehen jaͤhrlich uͤber zwanzig tauſend Franzoſen nach
Spanien, um den Spaniern in der Erndte zu helfen. Eben
ſo viel Brabaͤnder gehen in gleicher Abſicht nach Frankreich.
Eine nicht geringere Menge Weſtphaͤlinger geht den Hollaͤn-
dern und Brabaͤndern zu Huͤlfe; und mittlerweile kommen
die Schwaben, Thuͤringer und Baiern nach Weſtphalen, um
unſre Mauren zu verfertigen; die Italiaͤner weiſſen unſre
Kirchen und verſorgen uns mit Mauſefallen; die Tyroler rei-
nigen unſere Teiche; die Schweizer gehen nach Paris, um
den Franzoſen die Thuͤr zu huͤten oder die Schuh zu putzen;
und ſo wandert eine Nation zur andern, um bey ihr des
Sommers ein Stuͤck Brod zu verdienen, was ſie des Winters
zu Hauſe verzehre. Nichts iſt hier leichter als zu fragen:
Warum jede Nation nicht zu Hauſe bleibe, ſo lange ſie noch
Beduͤrfniſſe hat, welche ſie durch fremde Haͤnde beſtellen laſ-

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[94/0112] Die Frage: Iſt es gut, daß die Unterthan. haͤltniß gegen einander geboren werden. Nun moͤgen alle Hausmuͤtter auftreten, und auf ihr Gewiſſen bezeugen, GOtt habe ihnen Toͤchter und Knaben in ungleicher Anzahl beſcheret; es moͤgen alle Todtengraͤber bezeugen, ſie haͤtten mehr oder weniger Leute von der in ihren Dorf-Gemeinden befindlichen Anzahl begraben, als nach jener Regel haͤtten ſterben ſollen: ſo ſchadet dieſes der Rechnung im Großen nichts. Die große Regel bleibt wahr, wenn ſie gleich in der Anwendung auf jeden einzelnen Fall nicht zutrift. Nach dieſer kurzen Vorerinnerung will ich alles, was wider die Hollands-Gaͤnger aus dieſem Stifte, angefuͤhret worden, zugeſtehen. Ich will aber zeigen, daß der Geſichts- punkt, woraus man die Sache betrachtet, zu nahe an der Statue genommen; und ein einzelner Fall von dieſen oder jenen Kirchſpielen nicht hinlaͤnglich ſey, um darnach die Rech- nung im Großen zu machen. Jedoch noch eins zum voraus. Es gehen jaͤhrlich uͤber zwanzig tauſend Franzoſen nach Spanien, um den Spaniern in der Erndte zu helfen. Eben ſo viel Brabaͤnder gehen in gleicher Abſicht nach Frankreich. Eine nicht geringere Menge Weſtphaͤlinger geht den Hollaͤn- dern und Brabaͤndern zu Huͤlfe; und mittlerweile kommen die Schwaben, Thuͤringer und Baiern nach Weſtphalen, um unſre Mauren zu verfertigen; die Italiaͤner weiſſen unſre Kirchen und verſorgen uns mit Mauſefallen; die Tyroler rei- nigen unſere Teiche; die Schweizer gehen nach Paris, um den Franzoſen die Thuͤr zu huͤten oder die Schuh zu putzen; und ſo wandert eine Nation zur andern, um bey ihr des Sommers ein Stuͤck Brod zu verdienen, was ſie des Winters zu Hauſe verzehre. Nichts iſt hier leichter als zu fragen: Warum jede Nation nicht zu Hauſe bleibe, ſo lange ſie noch Beduͤrfniſſe hat, welche ſie durch fremde Haͤnde beſtellen laſ- ſen

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/112>, abgerufen am 24.11.2024.