Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

ganz aparte haben will -- Nun, mein Herzchen? dein
Besuch? was läuft er denn wieder weg?" Agnes,
diese Worte auf den Storch ziehend, deutet mit La-
chen seitwärts nach dem fortstolzierenden Vogel: allein
bevor der Förster sich näher mit ihr erklärt und ehe
das Mädchen die Mauerstufen ganz herunter ist, er-
scheint Nolten unter der Kirchthür: Agnes, ihn
erblickend, fällt mit einem leichten Schrei dem zu-
nächststehenden Vater um den Hals, wo sie ihr glü-
hendes Gesicht verbirgt, während unser Freund, der
sich diese erschüttert abgewandte Bewegung blitzschnell
durch sein böses Gewissen erklären läßt, mit einiger
Verlegenheit sich heranschmiegt, bis ein verstohlener,
halbaufgerichteter Blick des Mädchens über des Al-
ten Schulter hinweg ihm sagte, daß Freude, nicht Ab-
scheu oder Schmerz es sey, was hier am Vaterherzen
schluchze. Aber als das herrliche Kind sich nun plötz-
lich gegen ihn herumwandte, ihm mit aller Gewalt
leidenschaftlicher Liebe sich um den Leib warf und nur
die Worte vorbrachte: "Mein! Mein!" da hätte auch
er laut ausbrechen mögen, wenn die Uebermacht sol-
cher Augenblicke nicht die Lust selbst der glücklichsten
Thränen erstarren machte.


Indem man nach dem Hause zurückging, bedauerte
man sehr, daß Theobald den guten Baron vor ei-
nigen Tagen nicht würde begrüßen können, da er seit
einer Woche verreis't sey.

26

ganz aparte haben will — Nun, mein Herzchen? dein
Beſuch? was läuft er denn wieder weg?“ Agnes,
dieſe Worte auf den Storch ziehend, deutet mit La-
chen ſeitwärts nach dem fortſtolzierenden Vogel: allein
bevor der Förſter ſich näher mit ihr erklärt und ehe
das Mädchen die Mauerſtufen ganz herunter iſt, er-
ſcheint Nolten unter der Kirchthür: Agnes, ihn
erblickend, fällt mit einem leichten Schrei dem zu-
nächſtſtehenden Vater um den Hals, wo ſie ihr glü-
hendes Geſicht verbirgt, während unſer Freund, der
ſich dieſe erſchüttert abgewandte Bewegung blitzſchnell
durch ſein böſes Gewiſſen erklären läßt, mit einiger
Verlegenheit ſich heranſchmiegt, bis ein verſtohlener,
halbaufgerichteter Blick des Mädchens über des Al-
ten Schulter hinweg ihm ſagte, daß Freude, nicht Ab-
ſcheu oder Schmerz es ſey, was hier am Vaterherzen
ſchluchze. Aber als das herrliche Kind ſich nun plötz-
lich gegen ihn herumwandte, ihm mit aller Gewalt
leidenſchaftlicher Liebe ſich um den Leib warf und nur
die Worte vorbrachte: „Mein! Mein!“ da hätte auch
er laut ausbrechen mögen, wenn die Uebermacht ſol-
cher Augenblicke nicht die Luſt ſelbſt der glücklichſten
Thränen erſtarren machte.


Indem man nach dem Hauſe zurückging, bedauerte
man ſehr, daß Theobald den guten Baron vor ei-
nigen Tagen nicht würde begrüßen können, da er ſeit
einer Woche verreiſ’t ſey.

26
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0087" n="401"/>
ganz aparte haben will &#x2014; Nun, mein Herzchen? dein<lb/>
Be&#x017F;uch? was läuft er denn wieder weg?&#x201C; <hi rendition="#g">Agnes</hi>,<lb/>
die&#x017F;e Worte auf den Storch ziehend, deutet mit La-<lb/>
chen &#x017F;eitwärts nach dem fort&#x017F;tolzierenden Vogel: allein<lb/>
bevor der För&#x017F;ter &#x017F;ich näher mit ihr erklärt und ehe<lb/>
das Mädchen die Mauer&#x017F;tufen ganz herunter i&#x017F;t, er-<lb/>
&#x017F;cheint <hi rendition="#g">Nolten</hi> unter der Kirchthür: <hi rendition="#g">Agnes</hi>, ihn<lb/>
erblickend, fällt mit einem leichten Schrei dem zu-<lb/>
näch&#x017F;t&#x017F;tehenden Vater um den Hals, wo &#x017F;ie ihr glü-<lb/>
hendes Ge&#x017F;icht verbirgt, während un&#x017F;er Freund, der<lb/>
&#x017F;ich die&#x017F;e er&#x017F;chüttert abgewandte Bewegung blitz&#x017F;chnell<lb/>
durch &#x017F;ein bö&#x017F;es Gewi&#x017F;&#x017F;en erklären läßt, mit einiger<lb/>
Verlegenheit &#x017F;ich heran&#x017F;chmiegt, bis ein ver&#x017F;tohlener,<lb/>
halbaufgerichteter Blick des Mädchens über des Al-<lb/>
ten Schulter hinweg ihm &#x017F;agte, daß Freude, nicht Ab-<lb/>
&#x017F;cheu oder Schmerz es &#x017F;ey, was hier am Vaterherzen<lb/>
&#x017F;chluchze. Aber als das herrliche Kind &#x017F;ich nun plötz-<lb/>
lich gegen ihn herumwandte, ihm mit aller Gewalt<lb/>
leiden&#x017F;chaftlicher Liebe &#x017F;ich um den Leib warf und nur<lb/>
die Worte vorbrachte: &#x201E;Mein! Mein!&#x201C; da hätte auch<lb/>
er laut ausbrechen mögen, wenn die Uebermacht &#x017F;ol-<lb/>
cher Augenblicke nicht die Lu&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t der glücklich&#x017F;ten<lb/>
Thränen er&#x017F;tarren machte.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Indem man nach dem Hau&#x017F;e zurückging, bedauerte<lb/>
man &#x017F;ehr, daß <hi rendition="#g">Theobald</hi> den guten Baron vor ei-<lb/>
nigen Tagen nicht würde begrüßen können, da er &#x017F;eit<lb/>
einer Woche verrei&#x017F;&#x2019;t &#x017F;ey.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">26</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[401/0087] ganz aparte haben will — Nun, mein Herzchen? dein Beſuch? was läuft er denn wieder weg?“ Agnes, dieſe Worte auf den Storch ziehend, deutet mit La- chen ſeitwärts nach dem fortſtolzierenden Vogel: allein bevor der Förſter ſich näher mit ihr erklärt und ehe das Mädchen die Mauerſtufen ganz herunter iſt, er- ſcheint Nolten unter der Kirchthür: Agnes, ihn erblickend, fällt mit einem leichten Schrei dem zu- nächſtſtehenden Vater um den Hals, wo ſie ihr glü- hendes Geſicht verbirgt, während unſer Freund, der ſich dieſe erſchüttert abgewandte Bewegung blitzſchnell durch ſein böſes Gewiſſen erklären läßt, mit einiger Verlegenheit ſich heranſchmiegt, bis ein verſtohlener, halbaufgerichteter Blick des Mädchens über des Al- ten Schulter hinweg ihm ſagte, daß Freude, nicht Ab- ſcheu oder Schmerz es ſey, was hier am Vaterherzen ſchluchze. Aber als das herrliche Kind ſich nun plötz- lich gegen ihn herumwandte, ihm mit aller Gewalt leidenſchaftlicher Liebe ſich um den Leib warf und nur die Worte vorbrachte: „Mein! Mein!“ da hätte auch er laut ausbrechen mögen, wenn die Uebermacht ſol- cher Augenblicke nicht die Luſt ſelbſt der glücklichſten Thränen erſtarren machte. Indem man nach dem Hauſe zurückging, bedauerte man ſehr, daß Theobald den guten Baron vor ei- nigen Tagen nicht würde begrüßen können, da er ſeit einer Woche verreiſ’t ſey. 26

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/87
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/87>, abgerufen am 23.11.2024.