Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

Blick flüchtig am Fenster Theobalds hin, daß die-
sem vor entzücktem Schrecken beinahe ein Ausruf ent-
fahren wäre; aber das Köpfchen hing schon wieder
ruhig über dem geschäftigen Spiele der Finger. Schicht-
weise kam einigemal der süßeste Blumengeruch gegen
den Lauscher herübergeweht, um den geistigen Nerv
seiner Erinnerung nur immer reizender, betäubender
zu spannen, denn diese eigenthümliche Würze, meint er,
habe das Veilchen von jeher an keinem Orte der Welt
ausgehaucht, als hier, wo sich sein Duft mit den frü-
hen Gefühlen einer reinen Liebe vermischte.

Er dachte jezt ernstlich darauf, wie er am schick-
lichsten aus seinem Versteck hervortreten, und sich dem
ahnungslosen Mädchen zeigen wolle; aber, durfte er
bisher in schönem Vorgenuß die Gestalt und alle das
Regen und Bewegen der Geliebten unbemerkt beobach-
ten, so wollte ein artiger Zufall ihn auch den lang-
entbehrten Ton ihrer Stimme noch hören lassen. Der
Storch, der seit uralter Zeit sein Nest auf dem Kirch-
dache gehabt, spazierte mit sehr vieler Gravität erst
unten im Gras, dann auf der Mauerzinne umher, als
gälte es eine Morgenvisite bei Agnes. "Hast
schon gefrühstückt, Alter? komm, geh her!" rief
sie und schnalzte mit dem Finger; der langbei-
beinige Bursche aber nahm wenig Notiz von dem
herzlichen Gruße und marschirte gelassen hinten vorüber.
Jezt streckte plötzlich der alte Förster den Kopf schalk-
haft durch's Pförtchen: "Muß doch auch ein Bischen
nach dem verliebten Paare schauen, das seine Freude so

Blick flüchtig am Fenſter Theobalds hin, daß die-
ſem vor entzücktem Schrecken beinahe ein Ausruf ent-
fahren wäre; aber das Köpfchen hing ſchon wieder
ruhig über dem geſchäftigen Spiele der Finger. Schicht-
weiſe kam einigemal der ſüßeſte Blumengeruch gegen
den Lauſcher herübergeweht, um den geiſtigen Nerv
ſeiner Erinnerung nur immer reizender, betäubender
zu ſpannen, denn dieſe eigenthümliche Würze, meint er,
habe das Veilchen von jeher an keinem Orte der Welt
ausgehaucht, als hier, wo ſich ſein Duft mit den frü-
hen Gefühlen einer reinen Liebe vermiſchte.

Er dachte jezt ernſtlich darauf, wie er am ſchick-
lichſten aus ſeinem Verſteck hervortreten, und ſich dem
ahnungsloſen Mädchen zeigen wolle; aber, durfte er
bisher in ſchönem Vorgenuß die Geſtalt und alle das
Regen und Bewegen der Geliebten unbemerkt beobach-
ten, ſo wollte ein artiger Zufall ihn auch den lang-
entbehrten Ton ihrer Stimme noch hören laſſen. Der
Storch, der ſeit uralter Zeit ſein Neſt auf dem Kirch-
dache gehabt, ſpazierte mit ſehr vieler Gravität erſt
unten im Gras, dann auf der Mauerzinne umher, als
gälte es eine Morgenviſite bei Agnes. „Haſt
ſchon gefrühſtückt, Alter? komm, geh her!“ rief
ſie und ſchnalzte mit dem Finger; der langbei-
beinige Burſche aber nahm wenig Notiz von dem
herzlichen Gruße und marſchirte gelaſſen hinten vorüber.
Jezt ſtreckte plötzlich der alte Förſter den Kopf ſchalk-
haft durch’s Pförtchen: „Muß doch auch ein Bischen
nach dem verliebten Paare ſchauen, das ſeine Freude ſo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0086" n="400"/>
Blick flüchtig am Fen&#x017F;ter <hi rendition="#g">Theobalds</hi> hin, daß die-<lb/>
&#x017F;em vor entzücktem Schrecken beinahe ein Ausruf ent-<lb/>
fahren wäre; aber das Köpfchen hing &#x017F;chon wieder<lb/>
ruhig über dem ge&#x017F;chäftigen Spiele der Finger. Schicht-<lb/>
wei&#x017F;e kam einigemal der &#x017F;üße&#x017F;te Blumengeruch gegen<lb/>
den Lau&#x017F;cher herübergeweht, um den gei&#x017F;tigen Nerv<lb/>
&#x017F;einer Erinnerung nur immer reizender, betäubender<lb/>
zu &#x017F;pannen, denn die&#x017F;e eigenthümliche Würze, meint er,<lb/>
habe das Veilchen von jeher an keinem Orte der Welt<lb/>
ausgehaucht, als hier, wo &#x017F;ich &#x017F;ein Duft mit den frü-<lb/>
hen Gefühlen einer reinen Liebe vermi&#x017F;chte.</p><lb/>
          <p>Er dachte jezt ern&#x017F;tlich darauf, wie er am &#x017F;chick-<lb/>
lich&#x017F;ten aus &#x017F;einem Ver&#x017F;teck hervortreten, und &#x017F;ich dem<lb/>
ahnungslo&#x017F;en Mädchen zeigen wolle; aber, durfte er<lb/>
bisher in &#x017F;chönem Vorgenuß die Ge&#x017F;talt und alle das<lb/>
Regen und Bewegen der Geliebten unbemerkt beobach-<lb/>
ten, &#x017F;o wollte ein artiger Zufall ihn auch den lang-<lb/>
entbehrten Ton ihrer Stimme noch hören la&#x017F;&#x017F;en. Der<lb/>
Storch, der &#x017F;eit uralter Zeit &#x017F;ein Ne&#x017F;t auf dem Kirch-<lb/>
dache gehabt, &#x017F;pazierte mit &#x017F;ehr vieler Gravität er&#x017F;t<lb/>
unten im Gras, dann auf der Mauerzinne umher, als<lb/>
gälte es eine Morgenvi&#x017F;ite bei <hi rendition="#g">Agnes</hi>. &#x201E;Ha&#x017F;t<lb/>
&#x017F;chon gefrüh&#x017F;tückt, Alter? komm, geh her!&#x201C; rief<lb/>
&#x017F;ie und &#x017F;chnalzte mit dem Finger; der langbei-<lb/>
beinige Bur&#x017F;che aber nahm wenig Notiz von dem<lb/>
herzlichen Gruße und mar&#x017F;chirte gela&#x017F;&#x017F;en hinten vorüber.<lb/>
Jezt &#x017F;treckte plötzlich der alte För&#x017F;ter den Kopf &#x017F;chalk-<lb/>
haft durch&#x2019;s Pförtchen: &#x201E;Muß doch auch ein Bischen<lb/>
nach dem verliebten Paare &#x017F;chauen, das &#x017F;eine Freude &#x017F;o<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[400/0086] Blick flüchtig am Fenſter Theobalds hin, daß die- ſem vor entzücktem Schrecken beinahe ein Ausruf ent- fahren wäre; aber das Köpfchen hing ſchon wieder ruhig über dem geſchäftigen Spiele der Finger. Schicht- weiſe kam einigemal der ſüßeſte Blumengeruch gegen den Lauſcher herübergeweht, um den geiſtigen Nerv ſeiner Erinnerung nur immer reizender, betäubender zu ſpannen, denn dieſe eigenthümliche Würze, meint er, habe das Veilchen von jeher an keinem Orte der Welt ausgehaucht, als hier, wo ſich ſein Duft mit den frü- hen Gefühlen einer reinen Liebe vermiſchte. Er dachte jezt ernſtlich darauf, wie er am ſchick- lichſten aus ſeinem Verſteck hervortreten, und ſich dem ahnungsloſen Mädchen zeigen wolle; aber, durfte er bisher in ſchönem Vorgenuß die Geſtalt und alle das Regen und Bewegen der Geliebten unbemerkt beobach- ten, ſo wollte ein artiger Zufall ihn auch den lang- entbehrten Ton ihrer Stimme noch hören laſſen. Der Storch, der ſeit uralter Zeit ſein Neſt auf dem Kirch- dache gehabt, ſpazierte mit ſehr vieler Gravität erſt unten im Gras, dann auf der Mauerzinne umher, als gälte es eine Morgenviſite bei Agnes. „Haſt ſchon gefrühſtückt, Alter? komm, geh her!“ rief ſie und ſchnalzte mit dem Finger; der langbei- beinige Burſche aber nahm wenig Notiz von dem herzlichen Gruße und marſchirte gelaſſen hinten vorüber. Jezt ſtreckte plötzlich der alte Förſter den Kopf ſchalk- haft durch’s Pförtchen: „Muß doch auch ein Bischen nach dem verliebten Paare ſchauen, das ſeine Freude ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/86
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/86>, abgerufen am 02.05.2024.