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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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Kleid von ihr, das er sogleich wieder erkannte, über'n
Sessel hängen; der Anblick durchzückte ihn mit stechen-
der Wehmuth, und schaudernd mußte sein Geist über
die ganze Kluft der Zeiten hinwegsetzen.

Der Weg zum Kirchhof hinter dem Pfarrhaus zwi-
schen den Haselhecken hin, wie bekannt und fremd war ihm
Alles! Das kleine Pförtchen in der Mauer stand offen;
er trat in den stille grünenden Raum, der mit seinen
ländlichen Gräbern und Kreuzen die bescheidene Kirche
umgab. Begierig und schüchtern sucht er die Gestalt
Agnesens; hinter jedem Baum und Busch glaubt
er sie zu erspähen; umsonst; seine Ungeduld wächst
mit jedem Athemzug; ermüdet sezt er sich auf eine
hölzerne Bank unter den breiten Nußbaum und über-
schaut den friedsamen Platz. Die Thurmuhr läßt ih-
ren festen Perpendikeltakt vernehmen, einsame Bienen
summen um die jungen Kräuter, die Turteltaube
gurret hie und da, und, wie es immer kei-
nen unerfreulichen Eindruck macht, wenn sich un-
mittelbar an die traurigen Bilder des Todes und der
Zerstörung die heitere Vorstellung eines thätig regsa-
men Lebens anknüpft, so war es auch hier wohlthuend
für den Beschauer, mitten auf dem Felde der Ver-
wesung einzelne Spuren des alltäglichen lebendigen
Daseyns anzutreffen. Dort hatte der benachbarte
Tischler ein paar frisch aufgefärbte Bretter an einen
verwitterten Grabstein zum Trocknen angelehnt, wei-
ter oben blähten sich ein paar Streifen Leinwand in
der lustigen Frühlingsluft auf dem Grasboden, und von

Kleid von ihr, das er ſogleich wieder erkannte, über’n
Seſſel hängen; der Anblick durchzückte ihn mit ſtechen-
der Wehmuth, und ſchaudernd mußte ſein Geiſt über
die ganze Kluft der Zeiten hinwegſetzen.

Der Weg zum Kirchhof hinter dem Pfarrhaus zwi-
ſchen den Haſelhecken hin, wie bekannt und fremd war ihm
Alles! Das kleine Pförtchen in der Mauer ſtand offen;
er trat in den ſtille grünenden Raum, der mit ſeinen
ländlichen Gräbern und Kreuzen die beſcheidene Kirche
umgab. Begierig und ſchüchtern ſucht er die Geſtalt
Agneſens; hinter jedem Baum und Buſch glaubt
er ſie zu erſpähen; umſonſt; ſeine Ungeduld wächst
mit jedem Athemzug; ermüdet ſezt er ſich auf eine
hölzerne Bank unter den breiten Nußbaum und über-
ſchaut den friedſamen Platz. Die Thurmuhr läßt ih-
ren feſten Perpendikeltakt vernehmen, einſame Bienen
ſummen um die jungen Kräuter, die Turteltaube
gurret hie und da, und, wie es immer kei-
nen unerfreulichen Eindruck macht, wenn ſich un-
mittelbar an die traurigen Bilder des Todes und der
Zerſtörung die heitere Vorſtellung eines thätig regſa-
men Lebens anknüpft, ſo war es auch hier wohlthuend
für den Beſchauer, mitten auf dem Felde der Ver-
weſung einzelne Spuren des alltäglichen lebendigen
Daſeyns anzutreffen. Dort hatte der benachbarte
Tiſchler ein paar friſch aufgefärbte Bretter an einen
verwitterten Grabſtein zum Trocknen angelehnt, wei-
ter oben blähten ſich ein paar Streifen Leinwand in
der luſtigen Frühlingsluft auf dem Grasboden, und von

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[397/0083] Kleid von ihr, das er ſogleich wieder erkannte, über’n Seſſel hängen; der Anblick durchzückte ihn mit ſtechen- der Wehmuth, und ſchaudernd mußte ſein Geiſt über die ganze Kluft der Zeiten hinwegſetzen. Der Weg zum Kirchhof hinter dem Pfarrhaus zwi- ſchen den Haſelhecken hin, wie bekannt und fremd war ihm Alles! Das kleine Pförtchen in der Mauer ſtand offen; er trat in den ſtille grünenden Raum, der mit ſeinen ländlichen Gräbern und Kreuzen die beſcheidene Kirche umgab. Begierig und ſchüchtern ſucht er die Geſtalt Agneſens; hinter jedem Baum und Buſch glaubt er ſie zu erſpähen; umſonſt; ſeine Ungeduld wächst mit jedem Athemzug; ermüdet ſezt er ſich auf eine hölzerne Bank unter den breiten Nußbaum und über- ſchaut den friedſamen Platz. Die Thurmuhr läßt ih- ren feſten Perpendikeltakt vernehmen, einſame Bienen ſummen um die jungen Kräuter, die Turteltaube gurret hie und da, und, wie es immer kei- nen unerfreulichen Eindruck macht, wenn ſich un- mittelbar an die traurigen Bilder des Todes und der Zerſtörung die heitere Vorſtellung eines thätig regſa- men Lebens anknüpft, ſo war es auch hier wohlthuend für den Beſchauer, mitten auf dem Felde der Ver- weſung einzelne Spuren des alltäglichen lebendigen Daſeyns anzutreffen. Dort hatte der benachbarte Tiſchler ein paar friſch aufgefärbte Bretter an einen verwitterten Grabſtein zum Trocknen angelehnt, wei- ter oben blähten ſich ein paar Streifen Leinwand in der luſtigen Frühlingsluft auf dem Grasboden, und von

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/83>, abgerufen am 23.11.2024.