Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

ganz eigener Rührung mußte Theobald ergriffen
werden, wenn er dachte, welche Hände dieses Garn
gesponnen und sorglich es hieher getragen, wie manche
Stunde des langen Tages und der langen Nacht das
treuste der Mädchen unter wechselnden Gedanken an
den Entfernten, in hoffnungsreichem Fleiße, mit dieser
Arbeit hingebracht, während er, in übereiltem Wahne,
mit sündiger Gluth eine fremde Neigung pflegte.

Jezt hatte er kein Bleibens mehr an diesem Ort,
und doch konnte er den Muth auch nicht finden, Ag-
nesen
geradezu aufzusuchen; er trat unschlüssig in den
Eingang der Kirche, wo ihn eine angenehme Kühle
und, trotz der armseligen Ausstattung, ein feierlicher
Geist empfing. Haftete doch an diesen braunen abge-
nuzten Stühlen, an diesen Pfeilern und Bildern eine
unendliche Reihe frommer Jugendeindrücke, hatte doch
diese kleine Orgel mit ihren einfachen Tönen einst den
ganzen Umfang seines Gemüths erfüllt und es ah-
nungsvoll zum Höchsten aufgehoben, war doch dort,
der Kanzel gegenüber, noch derselbe Stuhl, wo Agnes
als ein Kind gesessen, ja den schmalen Goldstreifen
Sonne, der so eben die Rücklehne beschien, erinnerte
er sich wohl an manchem Sonntagmorgen gerade so
gesehen zu haben; in jedem Winkel schien ein holdes
Gespenst der Vergangenheit neugierig dem Halbfrem-
den aufzulauschen und ihm zuzuflüstern: Siehe, hier
ist sich am Ende Alles gleich geblieben, wie ist's in-
dessen mit dir gegangen?

ganz eigener Rührung mußte Theobald ergriffen
werden, wenn er dachte, welche Hände dieſes Garn
geſponnen und ſorglich es hieher getragen, wie manche
Stunde des langen Tages und der langen Nacht das
treuſte der Mädchen unter wechſelnden Gedanken an
den Entfernten, in hoffnungsreichem Fleiße, mit dieſer
Arbeit hingebracht, während er, in übereiltem Wahne,
mit ſündiger Gluth eine fremde Neigung pflegte.

Jezt hatte er kein Bleibens mehr an dieſem Ort,
und doch konnte er den Muth auch nicht finden, Ag-
neſen
geradezu aufzuſuchen; er trat unſchlüſſig in den
Eingang der Kirche, wo ihn eine angenehme Kühle
und, trotz der armſeligen Ausſtattung, ein feierlicher
Geiſt empfing. Haftete doch an dieſen braunen abge-
nuzten Stühlen, an dieſen Pfeilern und Bildern eine
unendliche Reihe frommer Jugendeindrücke, hatte doch
dieſe kleine Orgel mit ihren einfachen Tönen einſt den
ganzen Umfang ſeines Gemüths erfüllt und es ah-
nungsvoll zum Höchſten aufgehoben, war doch dort,
der Kanzel gegenüber, noch derſelbe Stuhl, wo Agnes
als ein Kind geſeſſen, ja den ſchmalen Goldſtreifen
Sonne, der ſo eben die Rücklehne beſchien, erinnerte
er ſich wohl an manchem Sonntagmorgen gerade ſo
geſehen zu haben; in jedem Winkel ſchien ein holdes
Geſpenſt der Vergangenheit neugierig dem Halbfrem-
den aufzulauſchen und ihm zuzuflüſtern: Siehe, hier
iſt ſich am Ende Alles gleich geblieben, wie iſt’s in-
deſſen mit dir gegangen?

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0084" n="398"/>
ganz eigener Rührung mußte <hi rendition="#g">Theobald</hi> ergriffen<lb/>
werden, wenn er dachte, welche Hände die&#x017F;es Garn<lb/>
ge&#x017F;ponnen und &#x017F;orglich es hieher getragen, wie manche<lb/>
Stunde des langen Tages und der langen Nacht das<lb/>
treu&#x017F;te der Mädchen unter wech&#x017F;elnden Gedanken an<lb/>
den Entfernten, in hoffnungsreichem Fleiße, mit die&#x017F;er<lb/>
Arbeit hingebracht, während er, in übereiltem Wahne,<lb/>
mit &#x017F;ündiger Gluth eine fremde Neigung pflegte.</p><lb/>
          <p>Jezt hatte er kein Bleibens mehr an die&#x017F;em Ort,<lb/>
und doch konnte er den Muth auch nicht finden, <hi rendition="#g">Ag-<lb/>
ne&#x017F;en</hi> geradezu aufzu&#x017F;uchen; er trat un&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;ig in den<lb/>
Eingang der Kirche, wo ihn eine angenehme Kühle<lb/>
und, trotz der arm&#x017F;eligen Aus&#x017F;tattung, ein feierlicher<lb/>
Gei&#x017F;t empfing. Haftete doch an die&#x017F;en braunen abge-<lb/>
nuzten Stühlen, an die&#x017F;en Pfeilern und Bildern eine<lb/>
unendliche Reihe frommer Jugendeindrücke, hatte doch<lb/>
die&#x017F;e kleine Orgel mit ihren einfachen Tönen ein&#x017F;t den<lb/>
ganzen Umfang &#x017F;eines Gemüths erfüllt und es ah-<lb/>
nungsvoll zum Höch&#x017F;ten aufgehoben, war doch dort,<lb/>
der Kanzel gegenüber, noch der&#x017F;elbe Stuhl, wo <hi rendition="#g">Agnes</hi><lb/>
als ein Kind ge&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en, ja den &#x017F;chmalen Gold&#x017F;treifen<lb/>
Sonne, der &#x017F;o eben die Rücklehne be&#x017F;chien, erinnerte<lb/>
er &#x017F;ich wohl an manchem Sonntagmorgen gerade &#x017F;o<lb/>
ge&#x017F;ehen zu haben; in jedem Winkel &#x017F;chien ein holdes<lb/>
Ge&#x017F;pen&#x017F;t der Vergangenheit neugierig dem Halbfrem-<lb/>
den aufzulau&#x017F;chen und ihm zuzuflü&#x017F;tern: Siehe, hier<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;ich am Ende Alles gleich geblieben, wie i&#x017F;t&#x2019;s in-<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en mit dir gegangen?</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[398/0084] ganz eigener Rührung mußte Theobald ergriffen werden, wenn er dachte, welche Hände dieſes Garn geſponnen und ſorglich es hieher getragen, wie manche Stunde des langen Tages und der langen Nacht das treuſte der Mädchen unter wechſelnden Gedanken an den Entfernten, in hoffnungsreichem Fleiße, mit dieſer Arbeit hingebracht, während er, in übereiltem Wahne, mit ſündiger Gluth eine fremde Neigung pflegte. Jezt hatte er kein Bleibens mehr an dieſem Ort, und doch konnte er den Muth auch nicht finden, Ag- neſen geradezu aufzuſuchen; er trat unſchlüſſig in den Eingang der Kirche, wo ihn eine angenehme Kühle und, trotz der armſeligen Ausſtattung, ein feierlicher Geiſt empfing. Haftete doch an dieſen braunen abge- nuzten Stühlen, an dieſen Pfeilern und Bildern eine unendliche Reihe frommer Jugendeindrücke, hatte doch dieſe kleine Orgel mit ihren einfachen Tönen einſt den ganzen Umfang ſeines Gemüths erfüllt und es ah- nungsvoll zum Höchſten aufgehoben, war doch dort, der Kanzel gegenüber, noch derſelbe Stuhl, wo Agnes als ein Kind geſeſſen, ja den ſchmalen Goldſtreifen Sonne, der ſo eben die Rücklehne beſchien, erinnerte er ſich wohl an manchem Sonntagmorgen gerade ſo geſehen zu haben; in jedem Winkel ſchien ein holdes Geſpenſt der Vergangenheit neugierig dem Halbfrem- den aufzulauſchen und ihm zuzuflüſtern: Siehe, hier iſt ſich am Ende Alles gleich geblieben, wie iſt’s in- deſſen mit dir gegangen?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/84
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/84>, abgerufen am 23.11.2024.