er habe den Meisel noch in seinem Alter insgeheim ergriffen? Wie überraschte es daher unsern Maler, als auf ein Geräusch, das in der Ecke entstand, die Jungfran sich erhob und ein schlanker, schwarzbärtiger Mann anständig auf sie zutrat, ihr mit einem Kusse auf die Lippen dankte, so herzlich und unbefangen, als wenn es eine Schwester wäre. Theobald er- kannte in dem Krauskopf auf der Stelle einen Bild- hauer, Raymund, den er öfters und namentlich bei dem Larkens'schen Abschiedsschmause gesehen, ohne ihm irgend näher gekommen zu seyn. Doch es war endlich Zeit zum Rückzuge, so schwer er sich von die- sem Anblick trennen konnte, der ihm eben so rührend und schuldlos däuchte, als er reizend und erhebend war. Kaum hat er die Thür hinter sich zugezogen und sich gefreut, daß der verrätherische kleine Schelm nicht etwa wieder um den Weg war, um Zeuge sei- ner gestillten Neugierde zu seyn -- so streckt der Hof- rath den Kopf aus dem Saale, und Beide begrüßen sich mit merklicher Verlegenheit, die denn auch noch eine Weile fortdauerte, nachdem das Gespräch bereits in Gang gekommen. Theobald war durchaus zer- streut von seinem schönen Abenteuer; auf seinem Ge- sicht, in seinen Augen lag eine ungewöhnliche Gluth, deren Grunde der Alte schlau genug nachkam. "Ich merke, merke was!" schmunzelte er und klopfte dem Freund auf die Achsel; "nur lassen Sie ja sich sonst nichts anmerken! es ist ein wilder Eber, der Ray-
er habe den Meiſel noch in ſeinem Alter insgeheim ergriffen? Wie überraſchte es daher unſern Maler, als auf ein Geräuſch, das in der Ecke entſtand, die Jungfran ſich erhob und ein ſchlanker, ſchwarzbärtiger Mann anſtändig auf ſie zutrat, ihr mit einem Kuſſe auf die Lippen dankte, ſo herzlich und unbefangen, als wenn es eine Schweſter wäre. Theobald er- kannte in dem Krauskopf auf der Stelle einen Bild- hauer, Raymund, den er öfters und namentlich bei dem Larkens’ſchen Abſchiedsſchmauſe geſehen, ohne ihm irgend näher gekommen zu ſeyn. Doch es war endlich Zeit zum Rückzuge, ſo ſchwer er ſich von die- ſem Anblick trennen konnte, der ihm eben ſo rührend und ſchuldlos däuchte, als er reizend und erhebend war. Kaum hat er die Thür hinter ſich zugezogen und ſich gefreut, daß der verrätheriſche kleine Schelm nicht etwa wieder um den Weg war, um Zeuge ſei- ner geſtillten Neugierde zu ſeyn — ſo ſtreckt der Hof- rath den Kopf aus dem Saale, und Beide begrüßen ſich mit merklicher Verlegenheit, die denn auch noch eine Weile fortdauerte, nachdem das Geſpräch bereits in Gang gekommen. Theobald war durchaus zer- ſtreut von ſeinem ſchönen Abenteuer; auf ſeinem Ge- ſicht, in ſeinen Augen lag eine ungewöhnliche Gluth, deren Grunde der Alte ſchlau genug nachkam. „Ich merke, merke was!“ ſchmunzelte er und klopfte dem Freund auf die Achſel; „nur laſſen Sie ja ſich ſonſt nichts anmerken! es iſt ein wilder Eber, der Ray-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0057"n="371"/>
er habe den Meiſel noch in ſeinem Alter insgeheim<lb/>
ergriffen? Wie überraſchte es daher unſern Maler,<lb/>
als auf ein Geräuſch, das in der Ecke entſtand, die<lb/>
Jungfran ſich erhob und ein ſchlanker, ſchwarzbärtiger<lb/>
Mann anſtändig auf ſie zutrat, ihr mit einem Kuſſe<lb/>
auf die Lippen dankte, ſo herzlich und unbefangen,<lb/>
als wenn es eine Schweſter wäre. <hirendition="#g">Theobald</hi> er-<lb/>
kannte in dem Krauskopf auf der Stelle einen Bild-<lb/>
hauer, <hirendition="#g">Raymund</hi>, den er öfters und namentlich bei<lb/>
dem <hirendition="#g">Larkens’ſ</hi>chen Abſchiedsſchmauſe geſehen, ohne<lb/>
ihm irgend näher gekommen zu ſeyn. Doch es war<lb/>
endlich Zeit zum Rückzuge, ſo ſchwer er ſich von die-<lb/>ſem Anblick trennen konnte, der ihm eben ſo rührend<lb/>
und ſchuldlos däuchte, als er reizend und erhebend<lb/>
war. Kaum hat er die Thür hinter ſich zugezogen<lb/>
und ſich gefreut, daß der verrätheriſche kleine Schelm<lb/>
nicht etwa wieder um den Weg war, um Zeuge ſei-<lb/>
ner geſtillten Neugierde zu ſeyn —ſo ſtreckt der Hof-<lb/>
rath den Kopf aus dem Saale, und Beide begrüßen<lb/>ſich mit merklicher Verlegenheit, die denn auch noch<lb/>
eine Weile fortdauerte, nachdem das Geſpräch bereits<lb/>
in Gang gekommen. <hirendition="#g">Theobald</hi> war durchaus zer-<lb/>ſtreut von ſeinem ſchönen Abenteuer; auf ſeinem Ge-<lb/>ſicht, in ſeinen Augen lag eine ungewöhnliche Gluth,<lb/>
deren Grunde der Alte ſchlau genug nachkam. „Ich<lb/>
merke, merke was!“ſchmunzelte er und klopfte dem<lb/>
Freund auf die Achſel; „nur laſſen Sie ja ſich ſonſt<lb/>
nichts anmerken! es iſt ein wilder Eber, der <hirendition="#g">Ray-<lb/></hi></p></div></div></body></text></TEI>
[371/0057]
er habe den Meiſel noch in ſeinem Alter insgeheim
ergriffen? Wie überraſchte es daher unſern Maler,
als auf ein Geräuſch, das in der Ecke entſtand, die
Jungfran ſich erhob und ein ſchlanker, ſchwarzbärtiger
Mann anſtändig auf ſie zutrat, ihr mit einem Kuſſe
auf die Lippen dankte, ſo herzlich und unbefangen,
als wenn es eine Schweſter wäre. Theobald er-
kannte in dem Krauskopf auf der Stelle einen Bild-
hauer, Raymund, den er öfters und namentlich bei
dem Larkens’ſchen Abſchiedsſchmauſe geſehen, ohne
ihm irgend näher gekommen zu ſeyn. Doch es war
endlich Zeit zum Rückzuge, ſo ſchwer er ſich von die-
ſem Anblick trennen konnte, der ihm eben ſo rührend
und ſchuldlos däuchte, als er reizend und erhebend
war. Kaum hat er die Thür hinter ſich zugezogen
und ſich gefreut, daß der verrätheriſche kleine Schelm
nicht etwa wieder um den Weg war, um Zeuge ſei-
ner geſtillten Neugierde zu ſeyn — ſo ſtreckt der Hof-
rath den Kopf aus dem Saale, und Beide begrüßen
ſich mit merklicher Verlegenheit, die denn auch noch
eine Weile fortdauerte, nachdem das Geſpräch bereits
in Gang gekommen. Theobald war durchaus zer-
ſtreut von ſeinem ſchönen Abenteuer; auf ſeinem Ge-
ſicht, in ſeinen Augen lag eine ungewöhnliche Gluth,
deren Grunde der Alte ſchlau genug nachkam. „Ich
merke, merke was!“ ſchmunzelte er und klopfte dem
Freund auf die Achſel; „nur laſſen Sie ja ſich ſonſt
nichts anmerken! es iſt ein wilder Eber, der Ray-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/57>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.