oder vielmehr nur den Zeigefinger hat sie unter'm Kinne, dieß kaum damit berührend. Ihr Sessel steht auf einem dunkelrothen Teppich, auf welchen herab die reichen Falten des Gewandes und der Tücher sich prächtig ergießen. Ein Bein, das über das andre geschlagen ist, läßt den Fuß nur bis über die Knö- chel blicken, wo ihn die andre Hand bequem zu hal- ten scheint. Aber welch ein herrlicher Kopf! mußte Theobald unwillkürlich für sich ausrufen; die rö- mische Kraft im Schwunge des Hinterhaupts vom starken Nacken an kontrastirte so rührend gegen das Kindliche des Angesichts, dessen Ausdruck nur lautre Schaam verriethe, wenn sich die leztere nicht so eben zur liebevollsten Ergebung in die Nothwendigkeit des Augenblicks zu neigen schiene. Offenbar war das Frauenzimmer nicht gewohnt, als Modell zu dienen. Und in des Hofraths Hause? Sollte der alte Narr etwa selbst den Pfuscher machen? Leider war es un- möglich, eine zweite Person, die sich gewiß im Zim- mer befinden mußte, zu entdecken; auch hörte man keinen Laut: die Schöne verharrte wie ein Marmor in derselben Stellung, nur die leisen Bebungen der Brust verriethen, daß sie athme, auch schien es ein- mal, als ob sie einen müden Blick gegen das Fenster hinüber wagte, von wo das Licht hereinfiel. Nolten hätte geschworen, dort sitze der Hofrath. Sagte nicht ein Gerücht, daß der alte Herr früher wirklich die Kunst getrieben? und wollten nicht Einige behaupten,
oder vielmehr nur den Zeigefinger hat ſie unter’m Kinne, dieß kaum damit berührend. Ihr Seſſel ſteht auf einem dunkelrothen Teppich, auf welchen herab die reichen Falten des Gewandes und der Tücher ſich prächtig ergießen. Ein Bein, das über das andre geſchlagen iſt, läßt den Fuß nur bis über die Knö- chel blicken, wo ihn die andre Hand bequem zu hal- ten ſcheint. Aber welch ein herrlicher Kopf! mußte Theobald unwillkürlich für ſich ausrufen; die rö- miſche Kraft im Schwunge des Hinterhaupts vom ſtarken Nacken an kontraſtirte ſo rührend gegen das Kindliche des Angeſichts, deſſen Ausdruck nur lautre Schaam verriethe, wenn ſich die leztere nicht ſo eben zur liebevollſten Ergebung in die Nothwendigkeit des Augenblicks zu neigen ſchiene. Offenbar war das Frauenzimmer nicht gewohnt, als Modell zu dienen. Und in des Hofraths Hauſe? Sollte der alte Narr etwa ſelbſt den Pfuſcher machen? Leider war es un- möglich, eine zweite Perſon, die ſich gewiß im Zim- mer befinden mußte, zu entdecken; auch hörte man keinen Laut: die Schöne verharrte wie ein Marmor in derſelben Stellung, nur die leiſen Bebungen der Bruſt verriethen, daß ſie athme, auch ſchien es ein- mal, als ob ſie einen müden Blick gegen das Fenſter hinüber wagte, von wo das Licht hereinfiel. Nolten hätte geſchworen, dort ſitze der Hofrath. Sagte nicht ein Gerücht, daß der alte Herr früher wirklich die Kunſt getrieben? und wollten nicht Einige behaupten,
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oder vielmehr nur den Zeigefinger hat ſie unter’m
Kinne, dieß kaum damit berührend. Ihr Seſſel ſteht
auf einem dunkelrothen Teppich, auf welchen herab
die reichen Falten des Gewandes und der Tücher ſich
prächtig ergießen. Ein Bein, das über das andre
geſchlagen iſt, läßt den Fuß nur bis über die Knö-
chel blicken, wo ihn die andre Hand bequem zu hal-
ten ſcheint. Aber welch ein herrlicher Kopf! mußte
Theobald unwillkürlich für ſich ausrufen; die rö-
miſche Kraft im Schwunge des Hinterhaupts vom
ſtarken Nacken an kontraſtirte ſo rührend gegen das
Kindliche des Angeſichts, deſſen Ausdruck nur lautre
Schaam verriethe, wenn ſich die leztere nicht ſo eben
zur liebevollſten Ergebung in die Nothwendigkeit des
Augenblicks zu neigen ſchiene. Offenbar war das
Frauenzimmer nicht gewohnt, als Modell zu dienen.
Und in des Hofraths Hauſe? Sollte der alte Narr
etwa ſelbſt den Pfuſcher machen? Leider war es un-
möglich, eine zweite Perſon, die ſich gewiß im Zim-
mer befinden mußte, zu entdecken; auch hörte man
keinen Laut: die Schöne verharrte wie ein Marmor
in derſelben Stellung, nur die leiſen Bebungen der
Bruſt verriethen, daß ſie athme, auch ſchien es ein-
mal, als ob ſie einen müden Blick gegen das Fenſter
hinüber wagte, von wo das Licht hereinfiel. Nolten
hätte geſchworen, dort ſitze der Hofrath. Sagte nicht
ein Gerücht, daß der alte Herr früher wirklich die
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/56>, abgerufen am 24.11.2024.
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