worauf ein grauer Diener, das einzige lebende Wesen, das den Hofrath umgab, bedächtig aus dem Fenster schaute und öffnete. Im untern Hausflur, wo sich sogleich der Geschmack und die Kunstliebhaberei des Hausherrn in gut aufgestellten Gypsfiguren ankündigte, findet Theobald einen unscheinbar gekleideten Kna- ben auf der Treppe sitzen und Zuckerwerk aus seiner Mütze naschen, der übrigens ganz hier zu Hause zu seyn scheint. Eine unglaublich angenehme Gesichts- bildung, die hellsten Augen, sehr muthwillig, lachen dem Maler entgegen, dem besonders die zierlich ge- lockten Haare auffallen. Der Knabe, nachdem er un- sern Freund ruhig vom Kopf bis zum Fuße gemessen, stand auf und gab der Thüre einen tüchtigen Tritt, daß sie schmetternd zuschlug. "Kannst Du sagen, ar- tiger Junge, ob der Herr Hofrath daheim ist?" Der Kleine antwortete nicht, sondern indem er die Treppe hinaufging, winkte er Theobalden, zu folgen. Oben öffnet er leis eine schmale Thüre und deutet schalkhaft hinein. Nolten befand sich allein in ei- nem kleinen Vorzimmer, wollte eben an einem zwei- ten Eingang klopfen, als ihm ein kleines Seitenfen- ster, dessen Vorhang von innen schlecht zugezogen ist, die wunderbarste stumme Scene im Nebenzimmer zeigt. In einer gespannten Beleuchtung, fast nur im Dämmerlichte, sizt weiß gekleidet ein Frauenzimmer, bis an den Gürtel entblös't. Ihre Stellung ist sin- nend, das Haupt etwas zur Seite geneigt, eine Hand
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worauf ein grauer Diener, das einzige lebende Weſen, das den Hofrath umgab, bedächtig aus dem Fenſter ſchaute und öffnete. Im untern Hausflur, wo ſich ſogleich der Geſchmack und die Kunſtliebhaberei des Hausherrn in gut aufgeſtellten Gypsfiguren ankündigte, findet Theobald einen unſcheinbar gekleideten Kna- ben auf der Treppe ſitzen und Zuckerwerk aus ſeiner Mütze naſchen, der übrigens ganz hier zu Hauſe zu ſeyn ſcheint. Eine unglaublich angenehme Geſichts- bildung, die hellſten Augen, ſehr muthwillig, lachen dem Maler entgegen, dem beſonders die zierlich ge- lockten Haare auffallen. Der Knabe, nachdem er un- ſern Freund ruhig vom Kopf bis zum Fuße gemeſſen, ſtand auf und gab der Thüre einen tüchtigen Tritt, daß ſie ſchmetternd zuſchlug. „Kannſt Du ſagen, ar- tiger Junge, ob der Herr Hofrath daheim iſt?“ Der Kleine antwortete nicht, ſondern indem er die Treppe hinaufging, winkte er Theobalden, zu folgen. Oben öffnet er leis eine ſchmale Thüre und deutet ſchalkhaft hinein. Nolten befand ſich allein in ei- nem kleinen Vorzimmer, wollte eben an einem zwei- ten Eingang klopfen, als ihm ein kleines Seitenfen- ſter, deſſen Vorhang von innen ſchlecht zugezogen iſt, die wunderbarſte ſtumme Scene im Nebenzimmer zeigt. In einer geſpannten Beleuchtung, faſt nur im Dämmerlichte, ſizt weiß gekleidet ein Frauenzimmer, bis an den Gürtel entblöſ’t. Ihre Stellung iſt ſin- nend, das Haupt etwas zur Seite geneigt, eine Hand
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worauf ein grauer Diener, das einzige lebende Weſen,
das den Hofrath umgab, bedächtig aus dem Fenſter
ſchaute und öffnete. Im untern Hausflur, wo ſich
ſogleich der Geſchmack und die Kunſtliebhaberei des
Hausherrn in gut aufgeſtellten Gypsfiguren ankündigte,
findet Theobald einen unſcheinbar gekleideten Kna-
ben auf der Treppe ſitzen und Zuckerwerk aus ſeiner
Mütze naſchen, der übrigens ganz hier zu Hauſe zu
ſeyn ſcheint. Eine unglaublich angenehme Geſichts-
bildung, die hellſten Augen, ſehr muthwillig, lachen
dem Maler entgegen, dem beſonders die zierlich ge-
lockten Haare auffallen. Der Knabe, nachdem er un-
ſern Freund ruhig vom Kopf bis zum Fuße gemeſſen,
ſtand auf und gab der Thüre einen tüchtigen Tritt,
daß ſie ſchmetternd zuſchlug. „Kannſt Du ſagen, ar-
tiger Junge, ob der Herr Hofrath daheim iſt?“ Der
Kleine antwortete nicht, ſondern indem er die Treppe
hinaufging, winkte er Theobalden, zu folgen.
Oben öffnet er leis eine ſchmale Thüre und deutet
ſchalkhaft hinein. Nolten befand ſich allein in ei-
nem kleinen Vorzimmer, wollte eben an einem zwei-
ten Eingang klopfen, als ihm ein kleines Seitenfen-
ſter, deſſen Vorhang von innen ſchlecht zugezogen iſt,
die wunderbarſte ſtumme Scene im Nebenzimmer
zeigt. In einer geſpannten Beleuchtung, faſt nur im
Dämmerlichte, ſizt weiß gekleidet ein Frauenzimmer,
bis an den Gürtel entblöſ’t. Ihre Stellung iſt ſin-
nend, das Haupt etwas zur Seite geneigt, eine Hand
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/55>, abgerufen am 24.11.2024.
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