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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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ein, von wo man unmittelbar auf die Wassersperre
hinunter und weiter hinaus auf das erquickendste
Wiesengrün und runde Hügel sah. Um wie viel lieb-
licher, eigener kam ihm an dieser beschränkten Stelle
Frühling und Sonnenschein vor, als da ihn dieser
noch im Freien und Weiten umgab! Lange blickte
er so auf den Spiegel des Wassers, er fühlte sich
sonderbar beklommen, bange vor der Zukunft, und
zugleich sicher in dieser eingeschloss'nen Gegenwart.
Auf einmal zog er die Papiere aus der Tasche, das
nächste, was ihm in die Hände kam, wollte er ohne
Wahl zuerst öffnen: es waren Briefe seiner Braut,
vermeintlich an Theobald geschrieben. Er sieht hin-
ein und augenblicklich hat ihn eine Stelle gefesselt,
bei der sein Inneres von einer ihm längst fremd ge-
wordnen Empfindung anzuschwellen beginnt; er will
zu lesen fortfahren, als er Justinen mit Gläsern
kommen hört; ganz unnöthigerweise verbirgt er schnell
den Schatz, aber ihm ist wie einem Diebe zu Muth,
der eine Beute vom höchsten, ihm selber noch nicht
ganz bekannten Werth, bei jedem Geräusche erschro-
cken zu verstecken eilt. Das Mädchen kam und fing
lebhaft und heiter zu schwatzen an, in dessen Erwie-
derung Nolten sein Möglichstes that. Sie mochte
merken, daß sie überflüssig sey, genug, sie entfernte
sich geschäftig und ließ den Gast allein. Er ist zu-
fällig vor einen kleinen schlechten Kupferstich getreten,
der unter dem Spiegel hängt und eine kniende Figur

ein, von wo man unmittelbar auf die Waſſerſperre
hinunter und weiter hinaus auf das erquickendſte
Wieſengrün und runde Hügel ſah. Um wie viel lieb-
licher, eigener kam ihm an dieſer beſchränkten Stelle
Frühling und Sonnenſchein vor, als da ihn dieſer
noch im Freien und Weiten umgab! Lange blickte
er ſo auf den Spiegel des Waſſers, er fühlte ſich
ſonderbar beklommen, bange vor der Zukunft, und
zugleich ſicher in dieſer eingeſchloſſ’nen Gegenwart.
Auf einmal zog er die Papiere aus der Taſche, das
nächſte, was ihm in die Hände kam, wollte er ohne
Wahl zuerſt öffnen: es waren Briefe ſeiner Braut,
vermeintlich an Theobald geſchrieben. Er ſieht hin-
ein und augenblicklich hat ihn eine Stelle gefeſſelt,
bei der ſein Inneres von einer ihm längſt fremd ge-
wordnen Empfindung anzuſchwellen beginnt; er will
zu leſen fortfahren, als er Juſtinen mit Gläſern
kommen hört; ganz unnöthigerweiſe verbirgt er ſchnell
den Schatz, aber ihm iſt wie einem Diebe zu Muth,
der eine Beute vom höchſten, ihm ſelber noch nicht
ganz bekannten Werth, bei jedem Geräuſche erſchro-
cken zu verſtecken eilt. Das Mädchen kam und fing
lebhaft und heiter zu ſchwatzen an, in deſſen Erwie-
derung Nolten ſein Möglichſtes that. Sie mochte
merken, daß ſie überflüſſig ſey, genug, ſie entfernte
ſich geſchäftig und ließ den Gaſt allein. Er iſt zu-
fällig vor einen kleinen ſchlechten Kupferſtich getreten,
der unter dem Spiegel hängt und eine kniende Figur

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[362/0048] ein, von wo man unmittelbar auf die Waſſerſperre hinunter und weiter hinaus auf das erquickendſte Wieſengrün und runde Hügel ſah. Um wie viel lieb- licher, eigener kam ihm an dieſer beſchränkten Stelle Frühling und Sonnenſchein vor, als da ihn dieſer noch im Freien und Weiten umgab! Lange blickte er ſo auf den Spiegel des Waſſers, er fühlte ſich ſonderbar beklommen, bange vor der Zukunft, und zugleich ſicher in dieſer eingeſchloſſ’nen Gegenwart. Auf einmal zog er die Papiere aus der Taſche, das nächſte, was ihm in die Hände kam, wollte er ohne Wahl zuerſt öffnen: es waren Briefe ſeiner Braut, vermeintlich an Theobald geſchrieben. Er ſieht hin- ein und augenblicklich hat ihn eine Stelle gefeſſelt, bei der ſein Inneres von einer ihm längſt fremd ge- wordnen Empfindung anzuſchwellen beginnt; er will zu leſen fortfahren, als er Juſtinen mit Gläſern kommen hört; ganz unnöthigerweiſe verbirgt er ſchnell den Schatz, aber ihm iſt wie einem Diebe zu Muth, der eine Beute vom höchſten, ihm ſelber noch nicht ganz bekannten Werth, bei jedem Geräuſche erſchro- cken zu verſtecken eilt. Das Mädchen kam und fing lebhaft und heiter zu ſchwatzen an, in deſſen Erwie- derung Nolten ſein Möglichſtes that. Sie mochte merken, daß ſie überflüſſig ſey, genug, ſie entfernte ſich geſchäftig und ließ den Gaſt allein. Er iſt zu- fällig vor einen kleinen ſchlechten Kupferſtich getreten, der unter dem Spiegel hängt und eine kniende Figur

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/48>, abgerufen am 24.11.2024.