Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

zu nehmen; er überlegte deßhalb so eben, ob er den
Pfad nach der Mühle hinunter einschlagen oder
nach der Stadt zurückkehren werde, als ihm ein
Müllerknecht begegnet, der ihm sagt, Herr und
Frau wären über Feld und kämen vor Abend
nicht nach Hause. Wie erwünscht war dem Maler
die Nachricht! eigentlich wollte er ja nur sein trau-
liches Plätzchen in des Müllers Wohnstube aufsuchen:
es schien ihm dieß der einzige Ort der Welt, der sei-
ner gegenwärtigen Verfassung tauge. Und er hatte
Recht; denn wer machte nicht schon die Erfahrung,
daß man einen verwickelten Gemüthszustand, gewisse
Schmerzen, Ueberraschungen und Verlegenheiten weit
leichter in irgend einer fremden ungestörten Umgebung,
als innerhalb der eignen Wände bei sich verarbeite?
Nolten gab sein Pferd in den Stall, wo man ihn
schon kannte, und trat in die reinliche braun getäfelte
Stube, wo er Niemanden traf, nur in der Kammer
neben saß auf dem Schemel ein zehnjähriges Mädchen,
das ein kleineres Brüderchen im Schoose hatte. Eine
ältere Tochter Justine, eine Prachtdirne, schlank
und rothwangig mit kohlschwarzen Augen, trat herein
unter dem gewöhnlichen treuherzigen Gruß, bedauerte,
daß die Eltern abwesend seyen, lief gleich nach den
Kellerschlüsseln und freute sich, als Nolten ihr er-
laubte, weil man im Hause schon gegessen hatte, ihm
wenigstens ein Stückchen Kuchen bringen zu dürfen.
Er nahm sogleich seine alte Bank und das Fenster

zu nehmen; er überlegte deßhalb ſo eben, ob er den
Pfad nach der Mühle hinunter einſchlagen oder
nach der Stadt zurückkehren werde, als ihm ein
Müllerknecht begegnet, der ihm ſagt, Herr und
Frau wären über Feld und kämen vor Abend
nicht nach Hauſe. Wie erwünſcht war dem Maler
die Nachricht! eigentlich wollte er ja nur ſein trau-
liches Plätzchen in des Müllers Wohnſtube aufſuchen:
es ſchien ihm dieß der einzige Ort der Welt, der ſei-
ner gegenwärtigen Verfaſſung tauge. Und er hatte
Recht; denn wer machte nicht ſchon die Erfahrung,
daß man einen verwickelten Gemüthszuſtand, gewiſſe
Schmerzen, Ueberraſchungen und Verlegenheiten weit
leichter in irgend einer fremden ungeſtörten Umgebung,
als innerhalb der eignen Wände bei ſich verarbeite?
Nolten gab ſein Pferd in den Stall, wo man ihn
ſchon kannte, und trat in die reinliche braun getäfelte
Stube, wo er Niemanden traf, nur in der Kammer
neben ſaß auf dem Schemel ein zehnjähriges Mädchen,
das ein kleineres Brüderchen im Schooſe hatte. Eine
ältere Tochter Juſtine, eine Prachtdirne, ſchlank
und rothwangig mit kohlſchwarzen Augen, trat herein
unter dem gewöhnlichen treuherzigen Gruß, bedauerte,
daß die Eltern abweſend ſeyen, lief gleich nach den
Kellerſchlüſſeln und freute ſich, als Nolten ihr er-
laubte, weil man im Hauſe ſchon gegeſſen hatte, ihm
wenigſtens ein Stückchen Kuchen bringen zu dürfen.
Er nahm ſogleich ſeine alte Bank und das Fenſter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0047" n="361"/>
zu nehmen; er überlegte deßhalb &#x017F;o eben, ob er den<lb/>
Pfad nach der Mühle hinunter ein&#x017F;chlagen oder<lb/>
nach der Stadt zurückkehren werde, als ihm ein<lb/>
Müllerknecht begegnet, der ihm &#x017F;agt, Herr und<lb/>
Frau wären über Feld und kämen vor Abend<lb/>
nicht nach Hau&#x017F;e. Wie erwün&#x017F;cht war dem Maler<lb/>
die Nachricht! eigentlich wollte er ja nur &#x017F;ein trau-<lb/>
liches Plätzchen in des Müllers Wohn&#x017F;tube auf&#x017F;uchen:<lb/>
es &#x017F;chien ihm dieß der einzige Ort der Welt, der &#x017F;ei-<lb/>
ner gegenwärtigen Verfa&#x017F;&#x017F;ung tauge. Und er hatte<lb/>
Recht; denn wer machte nicht &#x017F;chon die Erfahrung,<lb/>
daß man einen verwickelten Gemüthszu&#x017F;tand, gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Schmerzen, Ueberra&#x017F;chungen und Verlegenheiten weit<lb/>
leichter in irgend einer fremden unge&#x017F;törten Umgebung,<lb/>
als innerhalb der eignen Wände bei &#x017F;ich verarbeite?<lb/><hi rendition="#g">Nolten</hi> gab &#x017F;ein Pferd in den Stall, wo man ihn<lb/>
&#x017F;chon kannte, und trat in die reinliche braun getäfelte<lb/>
Stube, wo er Niemanden traf, nur in der Kammer<lb/>
neben &#x017F;aß auf dem Schemel ein zehnjähriges Mädchen,<lb/>
das ein kleineres Brüderchen im Schoo&#x017F;e hatte. Eine<lb/>
ältere Tochter <hi rendition="#g">Ju&#x017F;tine</hi>, eine Prachtdirne, &#x017F;chlank<lb/>
und rothwangig mit kohl&#x017F;chwarzen Augen, trat herein<lb/>
unter dem gewöhnlichen treuherzigen Gruß, bedauerte,<lb/>
daß die Eltern abwe&#x017F;end &#x017F;eyen, lief gleich nach den<lb/>
Keller&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;eln und freute &#x017F;ich, als <hi rendition="#g">Nolten</hi> ihr er-<lb/>
laubte, weil man im Hau&#x017F;e &#x017F;chon gege&#x017F;&#x017F;en hatte, ihm<lb/>
wenig&#x017F;tens ein Stückchen Kuchen bringen zu dürfen.<lb/>
Er nahm &#x017F;ogleich &#x017F;eine alte Bank und das Fen&#x017F;ter<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[361/0047] zu nehmen; er überlegte deßhalb ſo eben, ob er den Pfad nach der Mühle hinunter einſchlagen oder nach der Stadt zurückkehren werde, als ihm ein Müllerknecht begegnet, der ihm ſagt, Herr und Frau wären über Feld und kämen vor Abend nicht nach Hauſe. Wie erwünſcht war dem Maler die Nachricht! eigentlich wollte er ja nur ſein trau- liches Plätzchen in des Müllers Wohnſtube aufſuchen: es ſchien ihm dieß der einzige Ort der Welt, der ſei- ner gegenwärtigen Verfaſſung tauge. Und er hatte Recht; denn wer machte nicht ſchon die Erfahrung, daß man einen verwickelten Gemüthszuſtand, gewiſſe Schmerzen, Ueberraſchungen und Verlegenheiten weit leichter in irgend einer fremden ungeſtörten Umgebung, als innerhalb der eignen Wände bei ſich verarbeite? Nolten gab ſein Pferd in den Stall, wo man ihn ſchon kannte, und trat in die reinliche braun getäfelte Stube, wo er Niemanden traf, nur in der Kammer neben ſaß auf dem Schemel ein zehnjähriges Mädchen, das ein kleineres Brüderchen im Schooſe hatte. Eine ältere Tochter Juſtine, eine Prachtdirne, ſchlank und rothwangig mit kohlſchwarzen Augen, trat herein unter dem gewöhnlichen treuherzigen Gruß, bedauerte, daß die Eltern abweſend ſeyen, lief gleich nach den Kellerſchlüſſeln und freute ſich, als Nolten ihr er- laubte, weil man im Hauſe ſchon gegeſſen hatte, ihm wenigſtens ein Stückchen Kuchen bringen zu dürfen. Er nahm ſogleich ſeine alte Bank und das Fenſter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/47
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/47>, abgerufen am 24.11.2024.