Nacht mit meinem Vater auf den Lärm, den wir im untern Hausflur hörten, nach der Kapelle lief -- die Thür stand offen, und die Laterne außen auf dem Gang warf einen hellen Schein in die Kammer -- sah ich tief hinten bei der Orgel eine Fran, wie ei- nen Schatten, stehn, ihr gegenüber in kleiner Entfer- nung stand ein zweiter Schatten, ein Mann in dun- kelm Kleide, und dieses war Herr Nolten."
"Sonderbarer Mensch!" versezte der Präsident, "wie magst du denn behaupten, dieß gesehen zu haben?"
"Ich kann nichts sagen, als: vor meinen Augen war es licht geworden, ich konnte sehn, und das ist so gewiß, als ich jezt nicht mehr sehe."
"Jenes Frauenbild," -- fragte der Präsident mit List, "verglichst du es Jemanden?"
"Damals noch nicht. Erst heute mußt' ich an die verrückte Fremde denken, ich ließ mir sie daher beschreiben und kann die Aehnlichkeit nicht läugnen."
"Herrn Nolten aber, wie konntest du diesen so- gleich erkennen?"
"Mein Vater zeigte auf den Boden und nannte dabei den Herrn Maler, da merkt' ich erst, daß Die- ser, welcher vor uns lag, und Jener, welcher drüben stand, sich durchaus glichen und Einer und derselbe wären."
"Warum brauchst du den Ausdruck Schatten?"
"So däuchte mir's eben; doch ließen sich Gesicht und Miene und Farben der Kleidung wohl unterschei- den. Als Beide sich umfaßten, sich die Arme gaben
Nacht mit meinem Vater auf den Lärm, den wir im untern Hausflur hörten, nach der Kapelle lief — die Thür ſtand offen, und die Laterne außen auf dem Gang warf einen hellen Schein in die Kammer — ſah ich tief hinten bei der Orgel eine Fran, wie ei- nen Schatten, ſtehn, ihr gegenüber in kleiner Entfer- nung ſtand ein zweiter Schatten, ein Mann in dun- kelm Kleide, und dieſes war Herr Nolten.“
„Sonderbarer Menſch!“ verſezte der Präſident, „wie magſt du denn behaupten, dieß geſehen zu haben?“
„Ich kann nichts ſagen, als: vor meinen Augen war es licht geworden, ich konnte ſehn, und das iſt ſo gewiß, als ich jezt nicht mehr ſehe.“
„Jenes Frauenbild,“ — fragte der Präſident mit Liſt, „verglichſt du es Jemanden?“
„Damals noch nicht. Erſt heute mußt’ ich an die verrückte Fremde denken, ich ließ mir ſie daher beſchreiben und kann die Aehnlichkeit nicht läugnen.“
„Herrn Nolten aber, wie konnteſt du dieſen ſo- gleich erkennen?“
„Mein Vater zeigte auf den Boden und nannte dabei den Herrn Maler, da merkt’ ich erſt, daß Die- ſer, welcher vor uns lag, und Jener, welcher drüben ſtand, ſich durchaus glichen und Einer und derſelbe wären.“
„Warum brauchſt du den Ausdruck Schatten?“
„So däuchte mir’s eben; doch ließen ſich Geſicht und Miene und Farben der Kleidung wohl unterſchei- den. Als Beide ſich umfaßten, ſich die Arme gaben
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Nacht mit meinem Vater auf den Lärm, den wir im
untern Hausflur hörten, nach der Kapelle lief —
die Thür ſtand offen, und die Laterne außen auf dem
Gang warf einen hellen Schein in die Kammer —
ſah ich tief hinten bei der Orgel eine Fran, wie ei-
nen Schatten, ſtehn, ihr gegenüber in kleiner Entfer-
nung ſtand ein zweiter Schatten, ein Mann in dun-
kelm Kleide, und dieſes war Herr Nolten.“
„Sonderbarer Menſch!“ verſezte der Präſident,
„wie magſt du denn behaupten, dieß geſehen zu haben?“
„Ich kann nichts ſagen, als: vor meinen Augen
war es licht geworden, ich konnte ſehn, und das iſt
ſo gewiß, als ich jezt nicht mehr ſehe.“
„Jenes Frauenbild,“ — fragte der Präſident mit
Liſt, „verglichſt du es Jemanden?“
„Damals noch nicht. Erſt heute mußt’ ich an
die verrückte Fremde denken, ich ließ mir ſie daher
beſchreiben und kann die Aehnlichkeit nicht läugnen.“
„Herrn Nolten aber, wie konnteſt du dieſen ſo-
gleich erkennen?“
„Mein Vater zeigte auf den Boden und nannte
dabei den Herrn Maler, da merkt’ ich erſt, daß Die-
ſer, welcher vor uns lag, und Jener, welcher drüben ſtand,
ſich durchaus glichen und Einer und derſelbe wären.“
„Warum brauchſt du den Ausdruck Schatten?“
„So däuchte mir’s eben; doch ließen ſich Geſicht
und Miene und Farben der Kleidung wohl unterſchei-
den. Als Beide ſich umfaßten, ſich die Arme gaben
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/320>, abgerufen am 16.02.2025.
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