Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

wisse Umstände einen ängstlichern Werth legen wollte,
auch nicht an andern Vermuthungen, die, anfänglich
nur leise angedeutet, von den Vernünftigen belächelt
oder streng verwiesen, in Kurzem gleichwohl mehr
Beachtung und endlich stillschweigenden Glauben fanden.

Der Schwester ließ sich das Unglück nicht lange
verbergen; es warf sie nieder als wär' es ihr eigener
Tod. Margot hielt treulich bei ihr aus, doch frei-
lich blieb hier wenig oder nichts zu trösten.

Henni befindet sich, zum wenigsten äußerlich,
wieder wohl. Er scheint über einem ungeheuern Ein-
druck zu brüten, dessen er nicht Herr werden kann.
Ein regungsloses Vor-sich-Hinstaunen verschlingt den
eigentlichen Schmerz bei ihm. Er weiß sich nicht zu
helfen vor Ungeduld, sobald man ihn über sein ge-
striges Benehmen befragt; er flieht die Gesellschaft,
aber sogleich scheucht ihn eine Angst in die Nähe der
Seinen zurück.

Der Präsident, in Hoffnung irgend eines neuen
Aufschlusses über die traurige Begebenheit, befiehlt
dem Knaben in Beiseyn des Gärtners, zu reden. Auch
dann noch immer zaudernd und mit einer Art von
trotzigem Unwillen, der an dem sanften Menschen auf-
fiel, gab Henni, erst mit dürren Worten, dann aber
in immer steigender Bewegung, ein seltsames Bekennt-
niß, das den Präsidenten in sichtbare Verlegenheit sezte,
wie er es aufzunehmen habe.

"Als ich," sprach nämlich der Befragte, "gestern

wiſſe Umſtände einen ängſtlichern Werth legen wollte,
auch nicht an andern Vermuthungen, die, anfänglich
nur leiſe angedeutet, von den Vernünftigen belächelt
oder ſtreng verwieſen, in Kurzem gleichwohl mehr
Beachtung und endlich ſtillſchweigenden Glauben fanden.

Der Schweſter ließ ſich das Unglück nicht lange
verbergen; es warf ſie nieder als wär’ es ihr eigener
Tod. Margot hielt treulich bei ihr aus, doch frei-
lich blieb hier wenig oder nichts zu tröſten.

Henni befindet ſich, zum wenigſten äußerlich,
wieder wohl. Er ſcheint über einem ungeheuern Ein-
druck zu brüten, deſſen er nicht Herr werden kann.
Ein regungsloſes Vor-ſich-Hinſtaunen verſchlingt den
eigentlichen Schmerz bei ihm. Er weiß ſich nicht zu
helfen vor Ungeduld, ſobald man ihn über ſein ge-
ſtriges Benehmen befragt; er flieht die Geſellſchaft,
aber ſogleich ſcheucht ihn eine Angſt in die Nähe der
Seinen zurück.

Der Präſident, in Hoffnung irgend eines neuen
Aufſchluſſes über die traurige Begebenheit, befiehlt
dem Knaben in Beiſeyn des Gärtners, zu reden. Auch
dann noch immer zaudernd und mit einer Art von
trotzigem Unwillen, der an dem ſanften Menſchen auf-
fiel, gab Henni, erſt mit dürren Worten, dann aber
in immer ſteigender Bewegung, ein ſeltſames Bekennt-
niß, das den Präſidenten in ſichtbare Verlegenheit ſezte,
wie er es aufzunehmen habe.

„Als ich,“ ſprach nämlich der Befragte, „geſtern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0319" n="633"/>
wi&#x017F;&#x017F;e Um&#x017F;tände einen äng&#x017F;tlichern Werth legen wollte,<lb/>
auch nicht an andern Vermuthungen, die, anfänglich<lb/>
nur lei&#x017F;e angedeutet, von den Vernünftigen belächelt<lb/>
oder &#x017F;treng verwie&#x017F;en, in Kurzem gleichwohl mehr<lb/>
Beachtung und endlich &#x017F;till&#x017F;chweigenden Glauben fanden.</p><lb/>
          <p>Der Schwe&#x017F;ter ließ &#x017F;ich das Unglück nicht lange<lb/>
verbergen; es warf &#x017F;ie nieder als wär&#x2019; es ihr eigener<lb/>
Tod. <hi rendition="#g">Margot</hi> hielt treulich bei ihr aus, doch frei-<lb/>
lich blieb hier wenig oder nichts zu trö&#x017F;ten.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Henni</hi> befindet &#x017F;ich, zum wenig&#x017F;ten äußerlich,<lb/>
wieder wohl. Er &#x017F;cheint über einem ungeheuern Ein-<lb/>
druck zu brüten, de&#x017F;&#x017F;en er nicht Herr werden kann.<lb/>
Ein regungslo&#x017F;es Vor-&#x017F;ich-Hin&#x017F;taunen ver&#x017F;chlingt den<lb/>
eigentlichen Schmerz bei ihm. Er weiß &#x017F;ich nicht zu<lb/>
helfen vor Ungeduld, &#x017F;obald man ihn über &#x017F;ein ge-<lb/>
&#x017F;triges Benehmen befragt; er flieht die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft,<lb/>
aber &#x017F;ogleich &#x017F;cheucht ihn eine Ang&#x017F;t in die Nähe der<lb/>
Seinen zurück.</p><lb/>
          <p>Der Prä&#x017F;ident, in Hoffnung irgend eines neuen<lb/>
Auf&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;es über die traurige Begebenheit, befiehlt<lb/>
dem Knaben in Bei&#x017F;eyn des Gärtners, zu reden. Auch<lb/>
dann noch immer zaudernd und mit einer Art von<lb/>
trotzigem Unwillen, der an dem &#x017F;anften Men&#x017F;chen auf-<lb/>
fiel, gab <hi rendition="#g">Henni</hi>, er&#x017F;t mit dürren Worten, dann aber<lb/>
in immer &#x017F;teigender Bewegung, ein &#x017F;elt&#x017F;ames Bekennt-<lb/>
niß, das den Prä&#x017F;identen in &#x017F;ichtbare Verlegenheit &#x017F;ezte,<lb/>
wie er es aufzunehmen habe.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Als ich,&#x201C; &#x017F;prach nämlich der Befragte, &#x201E;ge&#x017F;tern<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[633/0319] wiſſe Umſtände einen ängſtlichern Werth legen wollte, auch nicht an andern Vermuthungen, die, anfänglich nur leiſe angedeutet, von den Vernünftigen belächelt oder ſtreng verwieſen, in Kurzem gleichwohl mehr Beachtung und endlich ſtillſchweigenden Glauben fanden. Der Schweſter ließ ſich das Unglück nicht lange verbergen; es warf ſie nieder als wär’ es ihr eigener Tod. Margot hielt treulich bei ihr aus, doch frei- lich blieb hier wenig oder nichts zu tröſten. Henni befindet ſich, zum wenigſten äußerlich, wieder wohl. Er ſcheint über einem ungeheuern Ein- druck zu brüten, deſſen er nicht Herr werden kann. Ein regungsloſes Vor-ſich-Hinſtaunen verſchlingt den eigentlichen Schmerz bei ihm. Er weiß ſich nicht zu helfen vor Ungeduld, ſobald man ihn über ſein ge- ſtriges Benehmen befragt; er flieht die Geſellſchaft, aber ſogleich ſcheucht ihn eine Angſt in die Nähe der Seinen zurück. Der Präſident, in Hoffnung irgend eines neuen Aufſchluſſes über die traurige Begebenheit, befiehlt dem Knaben in Beiſeyn des Gärtners, zu reden. Auch dann noch immer zaudernd und mit einer Art von trotzigem Unwillen, der an dem ſanften Menſchen auf- fiel, gab Henni, erſt mit dürren Worten, dann aber in immer ſteigender Bewegung, ein ſeltſames Bekennt- niß, das den Präſidenten in ſichtbare Verlegenheit ſezte, wie er es aufzunehmen habe. „Als ich,“ ſprach nämlich der Befragte, „geſtern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/319
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 633. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/319>, abgerufen am 05.05.2024.