wurzelt hatte. Kein Wunder will erscheinen, kein Gebet hilft ihm zu einer fröhlichen Gewißheit. In solcher Noth und Hoffnungslosigkeit überfiel ihn die Nacht, als er noch immer auf dem Felsen hingestreckt lag, welcher sich über die Kluft herbückte. In Ge- danken sah er so hinunter in die Finsterniß und über- legte, wie er mit anbrechendem Morgen in Gottes Namen wieder wandern und seiner Liebsten ein Ab- schiedsschreiben schicken wolle. Auf Einmal bemerkt er, daß es tief unten auf dem ruhigen Spiegel des Wassers als wie ein Gold- und Rosenschimmer zuckt und flimmt. Anfänglich traut er seinen Augen nicht, allein von Zeit zu Zeit kommt der liebliche Schein wieder. Ein frohes Ahnen geht ihm auf. Wie der Tag kommt, klimmt er die Felsen hinab, und siehe da! der weggeworfene Rosenstock hatte zwischen dem Ge- stein, kaum eine Spanne über'm Wasser, Wurzel ge- schlagen und blühte gar herrlich. Behutsam macht Alexis ihn los, bringt ihn an's Tageslicht herauf und findet an derselben Stelle, wo er vor zweien Jah- ren den Reif angesteckt, ringsum eine frische Rinde darüber gequollen, die ihn so dicht einschloß, daß kaum durch eine winzige Ritze das helle Gold herausglänzte. Noch voriges Jahr müßte Alexis den Ring, wäre er nicht so übereilt und sein Vertrauen zu Gott größer gewesen, weit leichter entdeckt haben. Wie dankbar warf er nun sich im Gebet zur Erde! Mit welchen Thränen küßte er den Stock, der außer vielen aufgegan-
wurzelt hatte. Kein Wunder will erſcheinen, kein Gebet hilft ihm zu einer fröhlichen Gewißheit. In ſolcher Noth und Hoffnungsloſigkeit überfiel ihn die Nacht, als er noch immer auf dem Felſen hingeſtreckt lag, welcher ſich über die Kluft herbückte. In Ge- danken ſah er ſo hinunter in die Finſterniß und über- legte, wie er mit anbrechendem Morgen in Gottes Namen wieder wandern und ſeiner Liebſten ein Ab- ſchiedsſchreiben ſchicken wolle. Auf Einmal bemerkt er, daß es tief unten auf dem ruhigen Spiegel des Waſſers als wie ein Gold- und Roſenſchimmer zuckt und flimmt. Anfänglich traut er ſeinen Augen nicht, allein von Zeit zu Zeit kommt der liebliche Schein wieder. Ein frohes Ahnen geht ihm auf. Wie der Tag kommt, klimmt er die Felſen hinab, und ſiehe da! der weggeworfene Roſenſtock hatte zwiſchen dem Ge- ſtein, kaum eine Spanne über’m Waſſer, Wurzel ge- ſchlagen und blühte gar herrlich. Behutſam macht Alexis ihn los, bringt ihn an’s Tageslicht herauf und findet an derſelben Stelle, wo er vor zweien Jah- ren den Reif angeſteckt, ringsum eine friſche Rinde darüber gequollen, die ihn ſo dicht einſchloß, daß kaum durch eine winzige Ritze das helle Gold herausglänzte. Noch voriges Jahr müßte Alexis den Ring, wäre er nicht ſo übereilt und ſein Vertrauen zu Gott größer geweſen, weit leichter entdeckt haben. Wie dankbar warf er nun ſich im Gebet zur Erde! Mit welchen Thränen küßte er den Stock, der außer vielen aufgegan-
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wurzelt hatte. Kein Wunder will erſcheinen, kein
Gebet hilft ihm zu einer fröhlichen Gewißheit. In
ſolcher Noth und Hoffnungsloſigkeit überfiel ihn die
Nacht, als er noch immer auf dem Felſen hingeſtreckt
lag, welcher ſich über die Kluft herbückte. In Ge-
danken ſah er ſo hinunter in die Finſterniß und über-
legte, wie er mit anbrechendem Morgen in Gottes
Namen wieder wandern und ſeiner Liebſten ein Ab-
ſchiedsſchreiben ſchicken wolle. Auf Einmal bemerkt
er, daß es tief unten auf dem ruhigen Spiegel des
Waſſers als wie ein Gold- und Roſenſchimmer zuckt
und flimmt. Anfänglich traut er ſeinen Augen nicht,
allein von Zeit zu Zeit kommt der liebliche Schein
wieder. Ein frohes Ahnen geht ihm auf. Wie der
Tag kommt, klimmt er die Felſen hinab, und ſiehe da!
der weggeworfene Roſenſtock hatte zwiſchen dem Ge-
ſtein, kaum eine Spanne über’m Waſſer, Wurzel ge-
ſchlagen und blühte gar herrlich. Behutſam macht
Alexis ihn los, bringt ihn an’s Tageslicht herauf
und findet an derſelben Stelle, wo er vor zweien Jah-
ren den Reif angeſteckt, ringsum eine friſche Rinde
darüber gequollen, die ihn ſo dicht einſchloß, daß kaum
durch eine winzige Ritze das helle Gold herausglänzte.
Noch voriges Jahr müßte Alexis den Ring, wäre
er nicht ſo übereilt und ſein Vertrauen zu Gott größer
geweſen, weit leichter entdeckt haben. Wie dankbar
warf er nun ſich im Gebet zur Erde! Mit welchen
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/296>, abgerufen am 23.11.2024.
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