sem Brunnen, als von einer bekannten Merkwürdig- keit, gelegentlich erzählen gehört. Es ist dieß wirk- lich ein sehenswerthes Ueberbleibsel aus dem höchsten Alterthum und äußerlich noch wohl erhalten. Die runde Mauer ragt etwa eine halbe Mannshöhe über den Erdboden vor, die Tiefe, obgleich zum Theil ver- schüttet, ist noch immer beträchtlich, man konnte mit mäßiger Schnelle auf Sechszehn zählen, eh' der hin- eingeworfene Stein unten auf dem Wasser aufschlug. Sein Name "Alexis-Brunn" bezog sich auf eine Le- gende. Agnes verlangte die Sage ausführlich von Henni zu hören, und er erzählte wie folgt.
"Vor vielen hundert Jahren, eh' noch das Chri- stenthum in deutschen Landen verbreitet gewesen, lebte ein Graf, der besaß eine Tochter, Belsore, die hatte er eines Herzogs Sohn, mit Namen Alexis, zur Ehe versprochen. Diese liebten einander treulich und rein; über ein Jahr sollte Alexis sie heimführen dürfen. Mittlerweile aber mußte er einen Zug thun mit seinem Vater, weitweg, nach Konstantinopel. Dort hörte er zum Erstenmal in seinem Leben das Evan- gelium von Christo predigen, was ihn und seinen Vater bewog, diesen Glauben besser kennen zu lernen. Sie blieben einen Monat in der gedachten Stadt und kamen mit Freuden zulezt überein, daß sie sich woll- ten taufen lassen. Bevor sie wieder heimreis'ten, ließ der Vater von einem griechischen Goldschmied zwei Fingerringe machen, worauf das Kreuzeszeichen in
ſem Brunnen, als von einer bekannten Merkwürdig- keit, gelegentlich erzählen gehört. Es iſt dieß wirk- lich ein ſehenswerthes Ueberbleibſel aus dem höchſten Alterthum und äußerlich noch wohl erhalten. Die runde Mauer ragt etwa eine halbe Mannshöhe über den Erdboden vor, die Tiefe, obgleich zum Theil ver- ſchüttet, iſt noch immer beträchtlich, man konnte mit mäßiger Schnelle auf Sechszehn zählen, eh’ der hin- eingeworfene Stein unten auf dem Waſſer aufſchlug. Sein Name „Alexis-Brunn“ bezog ſich auf eine Le- gende. Agnes verlangte die Sage ausführlich von Henni zu hören, und er erzählte wie folgt.
„Vor vielen hundert Jahren, eh’ noch das Chri- ſtenthum in deutſchen Landen verbreitet geweſen, lebte ein Graf, der beſaß eine Tochter, Belſore, die hatte er eines Herzogs Sohn, mit Namen Alexis, zur Ehe verſprochen. Dieſe liebten einander treulich und rein; über ein Jahr ſollte Alexis ſie heimführen dürfen. Mittlerweile aber mußte er einen Zug thun mit ſeinem Vater, weitweg, nach Konſtantinopel. Dort hörte er zum Erſtenmal in ſeinem Leben das Evan- gelium von Chriſto predigen, was ihn und ſeinen Vater bewog, dieſen Glauben beſſer kennen zu lernen. Sie blieben einen Monat in der gedachten Stadt und kamen mit Freuden zulezt überein, daß ſie ſich woll- ten taufen laſſen. Bevor ſie wieder heimreiſ’ten, ließ der Vater von einem griechiſchen Goldſchmied zwei Fingerringe machen, worauf das Kreuzeszeichen in
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ſem Brunnen, als von einer bekannten Merkwürdig-
keit, gelegentlich erzählen gehört. Es iſt dieß wirk-
lich ein ſehenswerthes Ueberbleibſel aus dem höchſten
Alterthum und äußerlich noch wohl erhalten. Die
runde Mauer ragt etwa eine halbe Mannshöhe über
den Erdboden vor, die Tiefe, obgleich zum Theil ver-
ſchüttet, iſt noch immer beträchtlich, man konnte mit
mäßiger Schnelle auf Sechszehn zählen, eh’ der hin-
eingeworfene Stein unten auf dem Waſſer aufſchlug.
Sein Name „Alexis-Brunn“ bezog ſich auf eine Le-
gende. Agnes verlangte die Sage ausführlich von
Henni zu hören, und er erzählte wie folgt.
„Vor vielen hundert Jahren, eh’ noch das Chri-
ſtenthum in deutſchen Landen verbreitet geweſen, lebte
ein Graf, der beſaß eine Tochter, Belſore, die hatte
er eines Herzogs Sohn, mit Namen Alexis, zur
Ehe verſprochen. Dieſe liebten einander treulich und
rein; über ein Jahr ſollte Alexis ſie heimführen
dürfen. Mittlerweile aber mußte er einen Zug thun
mit ſeinem Vater, weitweg, nach Konſtantinopel. Dort
hörte er zum Erſtenmal in ſeinem Leben das Evan-
gelium von Chriſto predigen, was ihn und ſeinen
Vater bewog, dieſen Glauben beſſer kennen zu lernen.
Sie blieben einen Monat in der gedachten Stadt und
kamen mit Freuden zulezt überein, daß ſie ſich woll-
ten taufen laſſen. Bevor ſie wieder heimreiſ’ten, ließ
der Vater von einem griechiſchen Goldſchmied zwei
Fingerringe machen, worauf das Kreuzeszeichen in
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 606. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/292>, abgerufen am 23.11.2024.
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