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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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ceros und Xenophons habe küssen lassen, und verges-
sen, sich den Mund rein zu wischen. Das Schönste
war, daß Margot dergleichen Armseligkeiten, auch
wenn sie darum wußte, im Geringsten nicht bitter
empfand; sie erschien bei den öffentlichen Vergnügun-
gen, wozu freilich mehr die Mutter als das eigene
Bedürfniß sie trieb, immer mit gleich unbefangener
Heiterkeit, sogar gehörte sie bei Spiel und Tanz zu
den eigentlich Lustigen; aber indem sie Wohlgesinnte
und Zweideutige ganz auf einerlei Weise behandelte,
zeigte sie, ohne es zu wollen, daß sie den Einen wie
den Andern missen könne. Allein auch diese unschul-
digste Indifferenz legte man entweder als Herzlosig-
keit, oder Stolz aus. Agnes und selbst die leichter
gesinnte junge Schwägerin huldigten dem guten We-
sen von ganzem Herzen, ohne erst noch seine glänzendste
Seite zu kennen.

Die Mädchen saßen im Gespräch auf einer Bank
und sahen jezt einen jungen Menschen von etwa sechs-
zehn Jahren, gewöhnlich aber rein gekleidet und einige
Bäumchen im Scherben tragend, den breiten Weg
herunterlaufen. Wie er an ihnen vorüber kam, nickte
er nur schnell und trocken mit dem Kopfe vor sich
hin, ohne sie anzusehn. Die zarte Bildung seines
Gesichts, die ganze Haltung des Knaben machte Nan-
netten
aufmerksam, und Margot sagte: "Es ist
der blinde Sohn des Gärtners. Sie haben ihn mit-
leidig angesehn und es geht anfänglich Jedermann so,

ceros und Xenophons habe küſſen laſſen, und vergeſ-
ſen, ſich den Mund rein zu wiſchen. Das Schönſte
war, daß Margot dergleichen Armſeligkeiten, auch
wenn ſie darum wußte, im Geringſten nicht bitter
empfand; ſie erſchien bei den öffentlichen Vergnügun-
gen, wozu freilich mehr die Mutter als das eigene
Bedürfniß ſie trieb, immer mit gleich unbefangener
Heiterkeit, ſogar gehörte ſie bei Spiel und Tanz zu
den eigentlich Luſtigen; aber indem ſie Wohlgeſinnte
und Zweideutige ganz auf einerlei Weiſe behandelte,
zeigte ſie, ohne es zu wollen, daß ſie den Einen wie
den Andern miſſen könne. Allein auch dieſe unſchul-
digſte Indifferenz legte man entweder als Herzloſig-
keit, oder Stolz aus. Agnes und ſelbſt die leichter
geſinnte junge Schwägerin huldigten dem guten We-
ſen von ganzem Herzen, ohne erſt noch ſeine glänzendſte
Seite zu kennen.

Die Mädchen ſaßen im Geſpräch auf einer Bank
und ſahen jezt einen jungen Menſchen von etwa ſechs-
zehn Jahren, gewöhnlich aber rein gekleidet und einige
Bäumchen im Scherben tragend, den breiten Weg
herunterlaufen. Wie er an ihnen vorüber kam, nickte
er nur ſchnell und trocken mit dem Kopfe vor ſich
hin, ohne ſie anzuſehn. Die zarte Bildung ſeines
Geſichts, die ganze Haltung des Knaben machte Nan-
netten
aufmerkſam, und Margot ſagte: „Es iſt
der blinde Sohn des Gärtners. Sie haben ihn mit-
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[536/0222] ceros und Xenophons habe küſſen laſſen, und vergeſ- ſen, ſich den Mund rein zu wiſchen. Das Schönſte war, daß Margot dergleichen Armſeligkeiten, auch wenn ſie darum wußte, im Geringſten nicht bitter empfand; ſie erſchien bei den öffentlichen Vergnügun- gen, wozu freilich mehr die Mutter als das eigene Bedürfniß ſie trieb, immer mit gleich unbefangener Heiterkeit, ſogar gehörte ſie bei Spiel und Tanz zu den eigentlich Luſtigen; aber indem ſie Wohlgeſinnte und Zweideutige ganz auf einerlei Weiſe behandelte, zeigte ſie, ohne es zu wollen, daß ſie den Einen wie den Andern miſſen könne. Allein auch dieſe unſchul- digſte Indifferenz legte man entweder als Herzloſig- keit, oder Stolz aus. Agnes und ſelbſt die leichter geſinnte junge Schwägerin huldigten dem guten We- ſen von ganzem Herzen, ohne erſt noch ſeine glänzendſte Seite zu kennen. Die Mädchen ſaßen im Geſpräch auf einer Bank und ſahen jezt einen jungen Menſchen von etwa ſechs- zehn Jahren, gewöhnlich aber rein gekleidet und einige Bäumchen im Scherben tragend, den breiten Weg herunterlaufen. Wie er an ihnen vorüber kam, nickte er nur ſchnell und trocken mit dem Kopfe vor ſich hin, ohne ſie anzuſehn. Die zarte Bildung ſeines Geſichts, die ganze Haltung des Knaben machte Nan- netten aufmerkſam, und Margot ſagte: „Es iſt der blinde Sohn des Gärtners. Sie haben ihn mit- leidig angeſehn und es geht anfänglich Jedermann ſo,

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/222>, abgerufen am 02.05.2024.