man glaubt ihn leidend, doch ist er es nicht, er hält sich für den glücklichsten Menschen. Wir lieben ihn Alle. Er hilft seinem Vater und verrichtet eine Menge Gartengeschäfte mit einer Leichtigkeit, daß es eine Lust ist, ihm zuzusehn, wenn ihm einmal die Sachen hingerüstet und bedeutet sind. Nichts kommt ihm falsch in die Hand, kein Blättchen knickt ihm unter den Fingern, eben als wenn die Gegenstände Augen hätten statt seiner und kämen ihm von selbst entge- gen. Dieß gibt nun einen so rührenden Begriff von der Neigung, dem stillen Einverständniß zwischen der äußern Natur und der Natur dieses sonderbaren Men- schen. Da er nicht von Geburt, sondern etwa seit seinem fünften Jahre blind ist, so kann er sich Far- ben und Gestalten vorstellen, aber wunderlich klingt es, wenn man ihn die Farben gewisser Blumen mit großer Bestimmtheit, aber oft grundfalsch so oder so angeben hört; er läßt sich seine Idee nicht nehmen, da er sie ein für alle Mal aus einem unerklärlichen Instinkt, hauptsächlich aus dem verschiedenen Geruche, dann auch aus dem eigenthümlichen Klange eines Na- mens vorgefaßt hat. Das Erstere kann man ihm noch hingehn lassen, der Zufall thut viel, und wirklich hat er es Einigemal bei sehr unbekannten Blumen auffallend getroffen."
"Wäre aber," sagte Agnes, "doch etwas Wah- res daran, so sollte man auch wohl die Gabe haben können, etwa aus der Stimme eines Menschen auf
man glaubt ihn leidend, doch iſt er es nicht, er hält ſich für den glücklichſten Menſchen. Wir lieben ihn Alle. Er hilft ſeinem Vater und verrichtet eine Menge Gartengeſchäfte mit einer Leichtigkeit, daß es eine Luſt iſt, ihm zuzuſehn, wenn ihm einmal die Sachen hingerüſtet und bedeutet ſind. Nichts kommt ihm falſch in die Hand, kein Blättchen knickt ihm unter den Fingern, eben als wenn die Gegenſtände Augen hätten ſtatt ſeiner und kämen ihm von ſelbſt entge- gen. Dieß gibt nun einen ſo rührenden Begriff von der Neigung, dem ſtillen Einverſtändniß zwiſchen der äußern Natur und der Natur dieſes ſonderbaren Men- ſchen. Da er nicht von Geburt, ſondern etwa ſeit ſeinem fünften Jahre blind iſt, ſo kann er ſich Far- ben und Geſtalten vorſtellen, aber wunderlich klingt es, wenn man ihn die Farben gewiſſer Blumen mit großer Beſtimmtheit, aber oft grundfalſch ſo oder ſo angeben hört; er läßt ſich ſeine Idee nicht nehmen, da er ſie ein für alle Mal aus einem unerklärlichen Inſtinkt, hauptſächlich aus dem verſchiedenen Geruche, dann auch aus dem eigenthümlichen Klange eines Na- mens vorgefaßt hat. Das Erſtere kann man ihm noch hingehn laſſen, der Zufall thut viel, und wirklich hat er es Einigemal bei ſehr unbekannten Blumen auffallend getroffen.“
„Wäre aber,“ ſagte Agnes, „doch etwas Wah- res daran, ſo ſollte man auch wohl die Gabe haben können, etwa aus der Stimme eines Menſchen auf
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0223"n="537"/>
man glaubt ihn leidend, doch iſt er es nicht, er hält<lb/>ſich für den glücklichſten Menſchen. Wir lieben ihn<lb/>
Alle. Er hilft ſeinem Vater und verrichtet eine Menge<lb/>
Gartengeſchäfte mit einer Leichtigkeit, daß es eine<lb/>
Luſt iſt, ihm zuzuſehn, wenn ihm einmal die Sachen<lb/>
hingerüſtet und bedeutet ſind. Nichts kommt ihm<lb/>
falſch in die Hand, kein Blättchen knickt ihm unter<lb/>
den Fingern, eben als wenn die Gegenſtände Augen<lb/>
hätten ſtatt ſeiner und kämen ihm von ſelbſt entge-<lb/>
gen. Dieß gibt nun einen ſo rührenden Begriff von<lb/>
der Neigung, dem ſtillen Einverſtändniß zwiſchen der<lb/>
äußern Natur und der Natur dieſes ſonderbaren Men-<lb/>ſchen. Da er nicht von Geburt, ſondern etwa ſeit<lb/>ſeinem fünften Jahre blind iſt, ſo kann er ſich Far-<lb/>
ben und Geſtalten vorſtellen, aber wunderlich klingt<lb/>
es, wenn man ihn die Farben gewiſſer Blumen mit<lb/>
großer Beſtimmtheit, aber oft grundfalſch ſo oder ſo<lb/>
angeben hört; er läßt ſich ſeine Idee nicht nehmen,<lb/>
da er ſie ein für alle Mal aus einem unerklärlichen<lb/>
Inſtinkt, hauptſächlich aus dem verſchiedenen Geruche,<lb/>
dann auch aus dem eigenthümlichen Klange eines Na-<lb/>
mens vorgefaßt hat. Das Erſtere kann man ihm<lb/>
noch hingehn laſſen, der Zufall thut viel, und wirklich<lb/>
hat er es Einigemal bei ſehr unbekannten Blumen<lb/>
auffallend getroffen.“</p><lb/><p>„Wäre aber,“ſagte <hirendition="#g">Agnes</hi>, „doch etwas Wah-<lb/>
res daran, ſo ſollte man auch wohl die Gabe haben<lb/>
können, etwa aus der Stimme eines Menſchen auf<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[537/0223]
man glaubt ihn leidend, doch iſt er es nicht, er hält
ſich für den glücklichſten Menſchen. Wir lieben ihn
Alle. Er hilft ſeinem Vater und verrichtet eine Menge
Gartengeſchäfte mit einer Leichtigkeit, daß es eine
Luſt iſt, ihm zuzuſehn, wenn ihm einmal die Sachen
hingerüſtet und bedeutet ſind. Nichts kommt ihm
falſch in die Hand, kein Blättchen knickt ihm unter
den Fingern, eben als wenn die Gegenſtände Augen
hätten ſtatt ſeiner und kämen ihm von ſelbſt entge-
gen. Dieß gibt nun einen ſo rührenden Begriff von
der Neigung, dem ſtillen Einverſtändniß zwiſchen der
äußern Natur und der Natur dieſes ſonderbaren Men-
ſchen. Da er nicht von Geburt, ſondern etwa ſeit
ſeinem fünften Jahre blind iſt, ſo kann er ſich Far-
ben und Geſtalten vorſtellen, aber wunderlich klingt
es, wenn man ihn die Farben gewiſſer Blumen mit
großer Beſtimmtheit, aber oft grundfalſch ſo oder ſo
angeben hört; er läßt ſich ſeine Idee nicht nehmen,
da er ſie ein für alle Mal aus einem unerklärlichen
Inſtinkt, hauptſächlich aus dem verſchiedenen Geruche,
dann auch aus dem eigenthümlichen Klange eines Na-
mens vorgefaßt hat. Das Erſtere kann man ihm
noch hingehn laſſen, der Zufall thut viel, und wirklich
hat er es Einigemal bei ſehr unbekannten Blumen
auffallend getroffen.“
„Wäre aber,“ ſagte Agnes, „doch etwas Wah-
res daran, ſo ſollte man auch wohl die Gabe haben
können, etwa aus der Stimme eines Menſchen auf
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/223>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.