Die Strophen bezeichneten ganz jene zärtlich auf- geregte Stimmung, womit die neue Jahreszeit den Menschen, und den Genesenden weit inniger als den Gesunden, heimzusuchen pflegt. Eine seltene Heiter- keit belebte das Gespräch der beiden Männer, während ihre Blicke sich fern auf der keimenden Landschaft er- gingen. Nie war Nolten so beredt wie heute, nie der Schauspieler so menschlich und liebenswürdig ge- wesen. Auf Einmal stand der Maler auf, sah dem Freunde lang und ernst, wie mit abwesenden Gedan- ken, in's Gesicht, und sagte dann, indem er seine Hände auf die Schultern des Andern legte, im ruhig- sten Tone: "Soll ich dir gestehen, Alter, daß dieß der glücklichste Tag meines Lebens ist, ja daß mir vorkommt, erst heute fang' ich eigentlich zu leben an? Begreife mich aber. Nicht diese erquickende Sonne ist es allein, nicht dieser junge Hauch der Welt und nicht deine belebende Gegenwart. Sieh, das Gefühl, wo- von ich rede, lag in der lezten Zeit schon beinahe reif in mir; ich kann nicht sagen, daß es die Folge langer Ueberlegung sey, doch ruht es auf dem klarsten und nüchternsten Bewußtseyn und ist so wahr als ich nur selber wirklich bin. Es hat sich mir in diesen Tagen die Gestalt meiner Vergangenheit, mein inneres und äußeres Geschick, von selber wie im Spiegel auf- gedrungen und es war das Erstemal, daß mir die Bedeutung meines Lebens, von seinen ersten Anfängen an, so unzweideutig vor Augen lag. Auch konnte das
Die Strophen bezeichneten ganz jene zärtlich auf- geregte Stimmung, womit die neue Jahreszeit den Menſchen, und den Geneſenden weit inniger als den Geſunden, heimzuſuchen pflegt. Eine ſeltene Heiter- keit belebte das Geſpräch der beiden Männer, während ihre Blicke ſich fern auf der keimenden Landſchaft er- gingen. Nie war Nolten ſo beredt wie heute, nie der Schauſpieler ſo menſchlich und liebenswürdig ge- weſen. Auf Einmal ſtand der Maler auf, ſah dem Freunde lang und ernſt, wie mit abweſenden Gedan- ken, in’s Geſicht, und ſagte dann, indem er ſeine Hände auf die Schultern des Andern legte, im ruhig- ſten Tone: „Soll ich dir geſtehen, Alter, daß dieß der glücklichſte Tag meines Lebens iſt, ja daß mir vorkommt, erſt heute fang’ ich eigentlich zu leben an? Begreife mich aber. Nicht dieſe erquickende Sonne iſt es allein, nicht dieſer junge Hauch der Welt und nicht deine belebende Gegenwart. Sieh, das Gefühl, wo- von ich rede, lag in der lezten Zeit ſchon beinahe reif in mir; ich kann nicht ſagen, daß es die Folge langer Ueberlegung ſey, doch ruht es auf dem klarſten und nüchternſten Bewußtſeyn und iſt ſo wahr als ich nur ſelber wirklich bin. Es hat ſich mir in dieſen Tagen die Geſtalt meiner Vergangenheit, mein inneres und äußeres Geſchick, von ſelber wie im Spiegel auf- gedrungen und es war das Erſtemal, daß mir die Bedeutung meines Lebens, von ſeinen erſten Anfängen an, ſo unzweideutig vor Augen lag. Auch konnte das
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Die Strophen bezeichneten ganz jene zärtlich auf-
geregte Stimmung, womit die neue Jahreszeit den
Menſchen, und den Geneſenden weit inniger als den
Geſunden, heimzuſuchen pflegt. Eine ſeltene Heiter-
keit belebte das Geſpräch der beiden Männer, während
ihre Blicke ſich fern auf der keimenden Landſchaft er-
gingen. Nie war Nolten ſo beredt wie heute, nie
der Schauſpieler ſo menſchlich und liebenswürdig ge-
weſen. Auf Einmal ſtand der Maler auf, ſah dem
Freunde lang und ernſt, wie mit abweſenden Gedan-
ken, in’s Geſicht, und ſagte dann, indem er ſeine
Hände auf die Schultern des Andern legte, im ruhig-
ſten Tone: „Soll ich dir geſtehen, Alter, daß dieß
der glücklichſte Tag meines Lebens iſt, ja daß mir
vorkommt, erſt heute fang’ ich eigentlich zu leben an?
Begreife mich aber. Nicht dieſe erquickende Sonne iſt
es allein, nicht dieſer junge Hauch der Welt und nicht
deine belebende Gegenwart. Sieh, das Gefühl, wo-
von ich rede, lag in der lezten Zeit ſchon beinahe
reif in mir; ich kann nicht ſagen, daß es die Folge
langer Ueberlegung ſey, doch ruht es auf dem klarſten
und nüchternſten Bewußtſeyn und iſt ſo wahr als ich
nur ſelber wirklich bin. Es hat ſich mir in dieſen
Tagen die Geſtalt meiner Vergangenheit, mein inneres
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/17>, abgerufen am 24.11.2024.
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