und durfte nicht wohl früher seyn. Ich mußte ge- wisse Zeiträume wie blindlings durchleben, vielleicht geht es mit den folgenden nicht anders und vielleicht ist das bei den meisten Menschen so; aber auf den kurzen Moment, wo die Richtung meiner Bahn sich verändert, wurde mir die Binde abgenommen, ich darf mich frei umschauen, als wie zu eigner Wahl, und freue mich, daß, indem eine Gottheit mich führt, ich doch eigentlich nur meines Willens, meines Gedankens mir bewußt bin. Die Macht, welche mich nöthigt, steht nicht als eigensinniger Treiber unsichtbar hinter mir, sie schwebt vor mir, in mir ist sie, mir däucht, als hätt' ich von Ewigkeit her mich mit ihr darüber verständigt, wohin wir zusammen gehen wollen, als wäre mir dieser Plan nur durch die endliche Beschrän- kung meines Daseyns weit aus dem Gedächtniß ge- rückt worden, und nur zuweilen käme mir mit tiefem Staunen die dunkle wunderbare Erinnerung daran zurück. Der Mensch rollt seinen Wagen wohin es ihm beliebt, aber unter den Rädern dreht sich un- merklich die Kugel, die er befährt. So sehe ich mich jezt an einem Ziele, wornach ich nie gestrebt hatte, und das ich mir niemals hatte träumen lassen. Vor wenig Wochen noch schien ich so weit davon entfernt! Manches, was mir so lang als nothwendige Bedin- gung meines Glücks, meines vollendeten Wesens er- schienen war, was ich mit unglaublicher Leidenschaft genährt und gepflegt hatte, liegt nun wie todte Schaale
und durfte nicht wohl früher ſeyn. Ich mußte ge- wiſſe Zeiträume wie blindlings durchleben, vielleicht geht es mit den folgenden nicht anders und vielleicht iſt das bei den meiſten Menſchen ſo; aber auf den kurzen Moment, wo die Richtung meiner Bahn ſich verändert, wurde mir die Binde abgenommen, ich darf mich frei umſchauen, als wie zu eigner Wahl, und freue mich, daß, indem eine Gottheit mich führt, ich doch eigentlich nur meines Willens, meines Gedankens mir bewußt bin. Die Macht, welche mich nöthigt, ſteht nicht als eigenſinniger Treiber unſichtbar hinter mir, ſie ſchwebt vor mir, in mir iſt ſie, mir däucht, als hätt’ ich von Ewigkeit her mich mit ihr darüber verſtändigt, wohin wir zuſammen gehen wollen, als wäre mir dieſer Plan nur durch die endliche Beſchrän- kung meines Daſeyns weit aus dem Gedächtniß ge- rückt worden, und nur zuweilen käme mir mit tiefem Staunen die dunkle wunderbare Erinnerung daran zurück. Der Menſch rollt ſeinen Wagen wohin es ihm beliebt, aber unter den Rädern dreht ſich un- merklich die Kugel, die er befährt. So ſehe ich mich jezt an einem Ziele, wornach ich nie geſtrebt hatte, und das ich mir niemals hatte träumen laſſen. Vor wenig Wochen noch ſchien ich ſo weit davon entfernt! Manches, was mir ſo lang als nothwendige Bedin- gung meines Glücks, meines vollendeten Weſens er- ſchienen war, was ich mit unglaublicher Leidenſchaft genährt und gepflegt hatte, liegt nun wie todte Schaale
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und durfte nicht wohl früher ſeyn. Ich mußte ge-
wiſſe Zeiträume wie blindlings durchleben, vielleicht
geht es mit den folgenden nicht anders und vielleicht
iſt das bei den meiſten Menſchen ſo; aber auf den
kurzen Moment, wo die Richtung meiner Bahn ſich
verändert, wurde mir die Binde abgenommen, ich darf
mich frei umſchauen, als wie zu eigner Wahl, und freue
mich, daß, indem eine Gottheit mich führt, ich doch
eigentlich nur meines Willens, meines Gedankens
mir bewußt bin. Die Macht, welche mich nöthigt,
ſteht nicht als eigenſinniger Treiber unſichtbar hinter
mir, ſie ſchwebt vor mir, in mir iſt ſie, mir däucht,
als hätt’ ich von Ewigkeit her mich mit ihr darüber
verſtändigt, wohin wir zuſammen gehen wollen, als
wäre mir dieſer Plan nur durch die endliche Beſchrän-
kung meines Daſeyns weit aus dem Gedächtniß ge-
rückt worden, und nur zuweilen käme mir mit tiefem
Staunen die dunkle wunderbare Erinnerung daran
zurück. Der Menſch rollt ſeinen Wagen wohin es
ihm beliebt, aber unter den Rädern dreht ſich un-
merklich die Kugel, die er befährt. So ſehe ich mich
jezt an einem Ziele, wornach ich nie geſtrebt hatte,
und das ich mir niemals hatte träumen laſſen. Vor
wenig Wochen noch ſchien ich ſo weit davon entfernt!
Manches, was mir ſo lang als nothwendige Bedin-
gung meines Glücks, meines vollendeten Weſens er-
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/18>, abgerufen am 27.11.2024.
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