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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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denke nun, ob dieser fromme Wächter deiner Kind-
heit dir's je verzeihen könnte, wenn du ihm nicht
vergönnen wolltest, dir noch den Kranz auf's Haupt
zu setzen, dich auf der Schwelle deines elterlichen Hau-
ses mit seinem schönsten Seegen zu entlassen. Es
hoffen alle deine Gespielen, Jung und Alt hofft dich
vor dem Altar zu sehen, das ganze Dorf hat die
Augen auf dich gerichtet. Und darf ich noch mehr
sagen? Zweier Personen muß ich gedenken, die diesen
Tag nicht mehr mit uns begehen sollten, deine theure
Mutter und unser kürzlich vollendeter Freund: ihr
Gruß wird uns an jenem Morgen schmerzlich fehlen,
aber doch eine Spur ihres Wesens wird uns an der
Stätte begegnen, wo sie einst mit uns waren, von
ihrer Ruhestätte wird --"

"Um Jesu willen, Theobald, nicht weiter!"
ruft Agnes, ihrer nicht mehr mächtig, und wirft
sich schluchzend vor ihm auf die Kniee -- "Du bringst
mich um -- Es kann nicht seyn -- Erlasset mirs!"
Bestürzt hebt er sie auf, liebkost, beschwichtigt, tröstet
sie: man sey ja weit entfernt, sagt er, ihrem Herzen
Gewalt anzuthun, er habe sich nun überzeugt, wie
unmöglich es ihr sey, auch liege ja so sehr viel nicht
an der Sache, er werde es dem Vater vorstellen, es
werde Alles gut gehn. Sie kamen vor die Laube,
sie mußte sich setzen; ein schmaler Streif des Mondes
fiel durchs Gezweige auf ihr Gesicht und Theobald
sah ihre Thränen in hellen Tropfen fallen. Er solle

denke nun, ob dieſer fromme Wächter deiner Kind-
heit dir’s je verzeihen könnte, wenn du ihm nicht
vergönnen wollteſt, dir noch den Kranz auf’s Haupt
zu ſetzen, dich auf der Schwelle deines elterlichen Hau-
ſes mit ſeinem ſchönſten Seegen zu entlaſſen. Es
hoffen alle deine Geſpielen, Jung und Alt hofft dich
vor dem Altar zu ſehen, das ganze Dorf hat die
Augen auf dich gerichtet. Und darf ich noch mehr
ſagen? Zweier Perſonen muß ich gedenken, die dieſen
Tag nicht mehr mit uns begehen ſollten, deine theure
Mutter und unſer kürzlich vollendeter Freund: ihr
Gruß wird uns an jenem Morgen ſchmerzlich fehlen,
aber doch eine Spur ihres Weſens wird uns an der
Stätte begegnen, wo ſie einſt mit uns waren, von
ihrer Ruheſtätte wird —“

„Um Jeſu willen, Theobald, nicht weiter!“
ruft Agnes, ihrer nicht mehr mächtig, und wirft
ſich ſchluchzend vor ihm auf die Kniee — „Du bringſt
mich um — Es kann nicht ſeyn — Erlaſſet mirs!“
Beſtürzt hebt er ſie auf, liebkost, beſchwichtigt, tröſtet
ſie: man ſey ja weit entfernt, ſagt er, ihrem Herzen
Gewalt anzuthun, er habe ſich nun überzeugt, wie
unmöglich es ihr ſey, auch liege ja ſo ſehr viel nicht
an der Sache, er werde es dem Vater vorſtellen, es
werde Alles gut gehn. Sie kamen vor die Laube,
ſie mußte ſich ſetzen; ein ſchmaler Streif des Mondes
fiel durchs Gezweige auf ihr Geſicht und Theobald
ſah ihre Thränen in hellen Tropfen fallen. Er ſolle

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[478/0164] denke nun, ob dieſer fromme Wächter deiner Kind- heit dir’s je verzeihen könnte, wenn du ihm nicht vergönnen wollteſt, dir noch den Kranz auf’s Haupt zu ſetzen, dich auf der Schwelle deines elterlichen Hau- ſes mit ſeinem ſchönſten Seegen zu entlaſſen. Es hoffen alle deine Geſpielen, Jung und Alt hofft dich vor dem Altar zu ſehen, das ganze Dorf hat die Augen auf dich gerichtet. Und darf ich noch mehr ſagen? Zweier Perſonen muß ich gedenken, die dieſen Tag nicht mehr mit uns begehen ſollten, deine theure Mutter und unſer kürzlich vollendeter Freund: ihr Gruß wird uns an jenem Morgen ſchmerzlich fehlen, aber doch eine Spur ihres Weſens wird uns an der Stätte begegnen, wo ſie einſt mit uns waren, von ihrer Ruheſtätte wird —“ „Um Jeſu willen, Theobald, nicht weiter!“ ruft Agnes, ihrer nicht mehr mächtig, und wirft ſich ſchluchzend vor ihm auf die Kniee — „Du bringſt mich um — Es kann nicht ſeyn — Erlaſſet mirs!“ Beſtürzt hebt er ſie auf, liebkost, beſchwichtigt, tröſtet ſie: man ſey ja weit entfernt, ſagt er, ihrem Herzen Gewalt anzuthun, er habe ſich nun überzeugt, wie unmöglich es ihr ſey, auch liege ja ſo ſehr viel nicht an der Sache, er werde es dem Vater vorſtellen, es werde Alles gut gehn. Sie kamen vor die Laube, ſie mußte ſich ſetzen; ein ſchmaler Streif des Mondes fiel durchs Gezweige auf ihr Geſicht und Theobald ſah ihre Thränen in hellen Tropfen fallen. Er ſolle

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/164>, abgerufen am 04.05.2024.