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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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neulich (wir versäumten bis jezt, es zu erwähnen),
mit welcher Bewunderung das schöne Angebinde der
unbekannten Freudinnen aus Theobalds Händen
empfangen und gegen das schwarze Festkleid gehalten!
"Sieh," sagte der Bräutigam jezt, und streichelte ihr
freundlich Kinn und Wangen, indem sein Ton zwi-
schen Wehmuth und einer ermuthigenden Munterkeit
wechselte, "dort schaut das Kirchlein her und thut
wie traurig, daß es die Freude deines Tags nicht
sehen soll! kannst du ihm seinen Willen denn nicht
thun? -- Gewiß, Agnes, ich will dich nicht bestür-
men: hier meine Hand darauf, daß du mit keinem
Wort, mit keiner unfreundlichen Miene, auch vom
Vater nicht, es künftig entgelten sollst, wenn du, was
wir verlangen, nun einmal nicht über dich vermöch-
test, nur überleg' es noch einmal. Ich will Alles bei
Seite setzen, was der Vater hauptsächlich für seine
Absicht anführt, ich will davon nichts sagen, daß es
Jederman auffallen müßte, Stoff zu Vermuthungen
gäbe, und dergleichen. Aber ob du der Heimath, in
deren Schoos du deine frohe Jugend lebtest, von der
du nun für immer Abschied nimmst, ob du ihr dieß
Fest nicht schuldig bist, worauf sie so gerne stolz seyn
möchte? Der Ort, das Haus, das Thal, wo man er-
zogen wurde, dünkt uns von einem eigenen Engel
behütet, der hier zurückbleibt, indem wir uns in die
weite Welt zerstreuen: es ist dieß wenigstens das
liebste Bild für ein natürliches Gefühl in uns; be-

neulich (wir verſäumten bis jezt, es zu erwähnen),
mit welcher Bewunderung das ſchöne Angebinde der
unbekannten Freudinnen aus Theobalds Händen
empfangen und gegen das ſchwarze Feſtkleid gehalten!
„Sieh,“ ſagte der Bräutigam jezt, und ſtreichelte ihr
freundlich Kinn und Wangen, indem ſein Ton zwi-
ſchen Wehmuth und einer ermuthigenden Munterkeit
wechſelte, „dort ſchaut das Kirchlein her und thut
wie traurig, daß es die Freude deines Tags nicht
ſehen ſoll! kannſt du ihm ſeinen Willen denn nicht
thun? — Gewiß, Agnes, ich will dich nicht beſtür-
men: hier meine Hand darauf, daß du mit keinem
Wort, mit keiner unfreundlichen Miene, auch vom
Vater nicht, es künftig entgelten ſollſt, wenn du, was
wir verlangen, nun einmal nicht über dich vermöch-
teſt, nur überleg’ es noch einmal. Ich will Alles bei
Seite ſetzen, was der Vater hauptſächlich für ſeine
Abſicht anführt, ich will davon nichts ſagen, daß es
Jederman auffallen müßte, Stoff zu Vermuthungen
gäbe, und dergleichen. Aber ob du der Heimath, in
deren Schoos du deine frohe Jugend lebteſt, von der
du nun für immer Abſchied nimmſt, ob du ihr dieß
Feſt nicht ſchuldig biſt, worauf ſie ſo gerne ſtolz ſeyn
möchte? Der Ort, das Haus, das Thal, wo man er-
zogen wurde, dünkt uns von einem eigenen Engel
behütet, der hier zurückbleibt, indem wir uns in die
weite Welt zerſtreuen: es iſt dieß wenigſtens das
liebſte Bild für ein natürliches Gefühl in uns; be-

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[477/0163] neulich (wir verſäumten bis jezt, es zu erwähnen), mit welcher Bewunderung das ſchöne Angebinde der unbekannten Freudinnen aus Theobalds Händen empfangen und gegen das ſchwarze Feſtkleid gehalten! „Sieh,“ ſagte der Bräutigam jezt, und ſtreichelte ihr freundlich Kinn und Wangen, indem ſein Ton zwi- ſchen Wehmuth und einer ermuthigenden Munterkeit wechſelte, „dort ſchaut das Kirchlein her und thut wie traurig, daß es die Freude deines Tags nicht ſehen ſoll! kannſt du ihm ſeinen Willen denn nicht thun? — Gewiß, Agnes, ich will dich nicht beſtür- men: hier meine Hand darauf, daß du mit keinem Wort, mit keiner unfreundlichen Miene, auch vom Vater nicht, es künftig entgelten ſollſt, wenn du, was wir verlangen, nun einmal nicht über dich vermöch- teſt, nur überleg’ es noch einmal. Ich will Alles bei Seite ſetzen, was der Vater hauptſächlich für ſeine Abſicht anführt, ich will davon nichts ſagen, daß es Jederman auffallen müßte, Stoff zu Vermuthungen gäbe, und dergleichen. Aber ob du der Heimath, in deren Schoos du deine frohe Jugend lebteſt, von der du nun für immer Abſchied nimmſt, ob du ihr dieß Feſt nicht ſchuldig biſt, worauf ſie ſo gerne ſtolz ſeyn möchte? Der Ort, das Haus, das Thal, wo man er- zogen wurde, dünkt uns von einem eigenen Engel behütet, der hier zurückbleibt, indem wir uns in die weite Welt zerſtreuen: es iſt dieß wenigſtens das liebſte Bild für ein natürliches Gefühl in uns; be-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/163>, abgerufen am 26.11.2024.