mit einer Art von frommer Todes-Wollust, mit über- schwänglichem Vertrauen küßt er den Saum am Kleide der Gottheit, deren geweihtes Kind er sich empfindet. Er hätte eine Ewigkeit so sitzen können, nur diese Schlafende neben sich, nur diese ruhige Kerze vor Augen. -- Er neigt sich über Agnes her und rührt mit leisen Lippen ihre Wange; sie schrickt zusammen und starrt ihm lange in's Gesicht, bis sie sich endlich findet. Stillschweigend treten Beide an's offene Fen- ster, eine balsamische Luft haucht ihnen entgegen; der volle Mond war eben aufgegangen und sezte die Ge- gend, das Gärtchen, in's Licht. Sie deutet hinab, ob er noch einen Gang zu machen Lust hätte. Man zauderte nicht. Der Vater war zu Bette gegangen, das ganze Dorf in Ruhe. Sie wandelten den mitt- lern Weg vom Haus zur Laube, zwischen aufblühen- den Rosengehegen, Hand in Hand auf und nieder. Keins konnte die ersten Worte recht finden. Er fing endlich damit an, den Vater zu entschuldigen, und rückte so dem Gegenstand des Streites näher, um zu erfahren, woher ihr diese Scheu, dieß Widerstreben gegen ein so natürliches als erfreuliches Vorhaben kam, von dem sie noch vor wenig Wochen mit aller Unbefangenheit, ja ganz im Sinn des ächten Mäd- chens gesprochen hatte, dem auch die äußeren Erfor- dernisse eines solchen Tags, die Musterung und Wahl des Putzes, ein reizender Gegenstand der Sorgfalt und der Mühe sind. Mit welcher Rührung hatte sie
mit einer Art von frommer Todes-Wolluſt, mit über- ſchwänglichem Vertrauen küßt er den Saum am Kleide der Gottheit, deren geweihtes Kind er ſich empfindet. Er hätte eine Ewigkeit ſo ſitzen können, nur dieſe Schlafende neben ſich, nur dieſe ruhige Kerze vor Augen. — Er neigt ſich über Agnes her und rührt mit leiſen Lippen ihre Wange; ſie ſchrickt zuſammen und ſtarrt ihm lange in’s Geſicht, bis ſie ſich endlich findet. Stillſchweigend treten Beide an’s offene Fen- ſter, eine balſamiſche Luft haucht ihnen entgegen; der volle Mond war eben aufgegangen und ſezte die Ge- gend, das Gärtchen, in’s Licht. Sie deutet hinab, ob er noch einen Gang zu machen Luſt hätte. Man zauderte nicht. Der Vater war zu Bette gegangen, das ganze Dorf in Ruhe. Sie wandelten den mitt- lern Weg vom Haus zur Laube, zwiſchen aufblühen- den Roſengehegen, Hand in Hand auf und nieder. Keins konnte die erſten Worte recht finden. Er fing endlich damit an, den Vater zu entſchuldigen, und rückte ſo dem Gegenſtand des Streites näher, um zu erfahren, woher ihr dieſe Scheu, dieß Widerſtreben gegen ein ſo natürliches als erfreuliches Vorhaben kam, von dem ſie noch vor wenig Wochen mit aller Unbefangenheit, ja ganz im Sinn des ächten Mäd- chens geſprochen hatte, dem auch die äußeren Erfor- derniſſe eines ſolchen Tags, die Muſterung und Wahl des Putzes, ein reizender Gegenſtand der Sorgfalt und der Mühe ſind. Mit welcher Rührung hatte ſie
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mit einer Art von frommer Todes-Wolluſt, mit über-
ſchwänglichem Vertrauen küßt er den Saum am Kleide
der Gottheit, deren geweihtes Kind er ſich empfindet.
Er hätte eine Ewigkeit ſo ſitzen können, nur dieſe
Schlafende neben ſich, nur dieſe ruhige Kerze vor
Augen. — Er neigt ſich über Agnes her und rührt
mit leiſen Lippen ihre Wange; ſie ſchrickt zuſammen
und ſtarrt ihm lange in’s Geſicht, bis ſie ſich endlich
findet. Stillſchweigend treten Beide an’s offene Fen-
ſter, eine balſamiſche Luft haucht ihnen entgegen; der
volle Mond war eben aufgegangen und ſezte die Ge-
gend, das Gärtchen, in’s Licht. Sie deutet hinab,
ob er noch einen Gang zu machen Luſt hätte. Man
zauderte nicht. Der Vater war zu Bette gegangen,
das ganze Dorf in Ruhe. Sie wandelten den mitt-
lern Weg vom Haus zur Laube, zwiſchen aufblühen-
den Roſengehegen, Hand in Hand auf und nieder.
Keins konnte die erſten Worte recht finden. Er fing
endlich damit an, den Vater zu entſchuldigen, und
rückte ſo dem Gegenſtand des Streites näher, um zu
erfahren, woher ihr dieſe Scheu, dieß Widerſtreben
gegen ein ſo natürliches als erfreuliches Vorhaben
kam, von dem ſie noch vor wenig Wochen mit aller
Unbefangenheit, ja ganz im Sinn des ächten Mäd-
chens geſprochen hatte, dem auch die äußeren Erfor-
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/162>, abgerufen am 26.11.2024.
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