Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

Lassen Sie uns noch einen Augenblick zu jenem glück-
lichen Mysticism des Knabenalters zurückkehren! denn
eigentlich sind es doch nur die Knaben, nicht aber
die Mädchen, bei denen er sich findet. Das wollt'
ich noch sagen: denken Sie wohl, daß Subjekte von
dieser angenehm phantastischen Komplexion -- wozu
ich überdieß, was nicht nothwendig dabei seyn muß
und bei den Wenigsten ist, eine größere Portion Geist
überhaupt zusetze -- daß, sag' ich, solche Individuen
jedesmal zu Dichtern und Künstlern geboren sind? ich
sollte nicht meinen."

"Keineswegs!" versezte Nolten. "Ich habe mir
bei einem Manne, der scheinbar nicht hieher gehört,
bei Napoleon, einige geheime Eigenschaften ge-
merkt, welche sich sehr gut an gewisse Fädchen von
Lichtenbergs eigenster Natur anknüpfen lassen;
sie berühren zwar nicht eben das, wovon wir jetzo
reden, aber sie hängen mit einer Gattung Aberglau-
ben zusammen, der ein Grenznachbar aller Idiosyn-
krasien ist."

"Napoleon!" rief der Baron aus, "als
wenn nicht auch sein Aberglaube nur angenommene
Maske wäre!"

"Machen Sie mir ihn nicht vollends zum seich-
ten Verbrecher!" entgegnete Nolten. "Er war nüch-
tern überall, nur nicht in dem tiefsten Schachte sei-
nes Busens. Nehmen Sie ihm nicht vollends die
einzige Religion, die er hatte, die Anbetung seiner

Laſſen Sie uns noch einen Augenblick zu jenem glück-
lichen Myſticism des Knabenalters zurückkehren! denn
eigentlich ſind es doch nur die Knaben, nicht aber
die Mädchen, bei denen er ſich findet. Das wollt’
ich noch ſagen: denken Sie wohl, daß Subjekte von
dieſer angenehm phantaſtiſchen Komplexion — wozu
ich überdieß, was nicht nothwendig dabei ſeyn muß
und bei den Wenigſten iſt, eine größere Portion Geiſt
überhaupt zuſetze — daß, ſag’ ich, ſolche Individuen
jedesmal zu Dichtern und Künſtlern geboren ſind? ich
ſollte nicht meinen.“

„Keineswegs!“ verſezte Nolten. „Ich habe mir
bei einem Manne, der ſcheinbar nicht hieher gehört,
bei Napoleon, einige geheime Eigenſchaften ge-
merkt, welche ſich ſehr gut an gewiſſe Fädchen von
Lichtenbergs eigenſter Natur anknüpfen laſſen;
ſie berühren zwar nicht eben das, wovon wir jetzo
reden, aber ſie hängen mit einer Gattung Aberglau-
ben zuſammen, der ein Grenznachbar aller Idioſyn-
kraſien iſt.“

Napoleon!“ rief der Baron aus, „als
wenn nicht auch ſein Aberglaube nur angenommene
Maske wäre!“

„Machen Sie mir ihn nicht vollends zum ſeich-
ten Verbrecher!“ entgegnete Nolten. „Er war nüch-
tern überall, nur nicht in dem tiefſten Schachte ſei-
nes Buſens. Nehmen Sie ihm nicht vollends die
einzige Religion, die er hatte, die Anbetung ſeiner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0110" n="424"/>
La&#x017F;&#x017F;en Sie uns noch einen Augenblick zu jenem glück-<lb/>
lichen My&#x017F;ticism des Knabenalters zurückkehren! denn<lb/>
eigentlich &#x017F;ind es doch nur die Knaben, nicht aber<lb/>
die Mädchen, bei denen er &#x017F;ich findet. Das wollt&#x2019;<lb/>
ich noch &#x017F;agen: denken Sie wohl, daß Subjekte von<lb/>
die&#x017F;er angenehm phanta&#x017F;ti&#x017F;chen Komplexion &#x2014; wozu<lb/>
ich überdieß, was nicht nothwendig dabei &#x017F;eyn muß<lb/>
und bei den Wenig&#x017F;ten i&#x017F;t, eine größere Portion Gei&#x017F;t<lb/>
überhaupt zu&#x017F;etze &#x2014; daß, &#x017F;ag&#x2019; ich, &#x017F;olche Individuen<lb/>
jedesmal zu Dichtern und Kün&#x017F;tlern geboren &#x017F;ind? ich<lb/>
&#x017F;ollte nicht meinen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Keineswegs!&#x201C; ver&#x017F;ezte <hi rendition="#g">Nolten</hi>. &#x201E;Ich habe mir<lb/>
bei einem Manne, der &#x017F;cheinbar nicht hieher gehört,<lb/>
bei <hi rendition="#g">Napoleon</hi>, einige geheime Eigen&#x017F;chaften ge-<lb/>
merkt, welche &#x017F;ich &#x017F;ehr gut an gewi&#x017F;&#x017F;e Fädchen von<lb/><hi rendition="#g">Lichtenbergs</hi> eigen&#x017F;ter Natur anknüpfen la&#x017F;&#x017F;en;<lb/>
&#x017F;ie berühren zwar nicht eben das, wovon wir jetzo<lb/>
reden, aber &#x017F;ie hängen mit einer Gattung Aberglau-<lb/>
ben zu&#x017F;ammen, der ein Grenznachbar aller Idio&#x017F;yn-<lb/>
kra&#x017F;ien i&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;<hi rendition="#g">Napoleon</hi>!&#x201C; rief der Baron aus, &#x201E;als<lb/>
wenn nicht auch &#x017F;ein Aberglaube nur angenommene<lb/>
Maske wäre!&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Machen Sie mir ihn nicht vollends zum &#x017F;eich-<lb/>
ten Verbrecher!&#x201C; entgegnete <hi rendition="#g">Nolten</hi>. &#x201E;Er war nüch-<lb/>
tern überall, nur nicht in dem tief&#x017F;ten Schachte &#x017F;ei-<lb/>
nes Bu&#x017F;ens. Nehmen Sie ihm nicht vollends die<lb/>
einzige Religion, die er hatte, die Anbetung &#x017F;einer<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[424/0110] Laſſen Sie uns noch einen Augenblick zu jenem glück- lichen Myſticism des Knabenalters zurückkehren! denn eigentlich ſind es doch nur die Knaben, nicht aber die Mädchen, bei denen er ſich findet. Das wollt’ ich noch ſagen: denken Sie wohl, daß Subjekte von dieſer angenehm phantaſtiſchen Komplexion — wozu ich überdieß, was nicht nothwendig dabei ſeyn muß und bei den Wenigſten iſt, eine größere Portion Geiſt überhaupt zuſetze — daß, ſag’ ich, ſolche Individuen jedesmal zu Dichtern und Künſtlern geboren ſind? ich ſollte nicht meinen.“ „Keineswegs!“ verſezte Nolten. „Ich habe mir bei einem Manne, der ſcheinbar nicht hieher gehört, bei Napoleon, einige geheime Eigenſchaften ge- merkt, welche ſich ſehr gut an gewiſſe Fädchen von Lichtenbergs eigenſter Natur anknüpfen laſſen; ſie berühren zwar nicht eben das, wovon wir jetzo reden, aber ſie hängen mit einer Gattung Aberglau- ben zuſammen, der ein Grenznachbar aller Idioſyn- kraſien iſt.“ „Napoleon!“ rief der Baron aus, „als wenn nicht auch ſein Aberglaube nur angenommene Maske wäre!“ „Machen Sie mir ihn nicht vollends zum ſeich- ten Verbrecher!“ entgegnete Nolten. „Er war nüch- tern überall, nur nicht in dem tiefſten Schachte ſei- nes Buſens. Nehmen Sie ihm nicht vollends die einzige Religion, die er hatte, die Anbetung ſeiner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/110
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/110>, abgerufen am 27.04.2024.