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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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und vollends finden wir sein Erstaunen gerecht, als
er einmal beim Weggehen Ottos, welcher Agnesen
wie sonst auf der Schwelle die Hand gab, eine Thräne
in ihrem klaren Auge bemerkte. "Was soll doch das,
mein Kind?" fragte der Vater, nachdem sie allein
waren, betroffen. "Nichts," erwiderte sie mit einigem
Erröthen und drehte sich zur Seite; "sein Anblick
rührt mich oft, er gefällt mir nun einmal." Dann
ging sie sorglos, wie es schien, und singend in der
Stube auf und nieder.

Vorübergehende Auftritte der Art brachten den
Förster auf mancherlei Gedanken, und es ist zu be-
greifen, wenn er es endlich mehr als wahrscheinlich
fand, daß hinter diesem unnatürlichen Zustande eine
aufkeimende Leidenschaft für Otto sich verstecke, die
er nur einer krankhaften Reizbarkeit des Mädchens
Schuld geben konnte. Der Zeit nach, worein die er-
sten Besuche des Vetters und jene ersten grillenhaften
Aeußerungen Agnesens fielen, widersprach jener
Vermuthung nichts. Der Leser aber kann über den
wahren Zusammenhang des wunderlichen Gewebes
wohl nimmer im Zweifel seyn.

Der Verstand des guten Wesens hatte das Gleich-
gewicht verloren, und der traurige Riß war kaum ge-
schehen, als die Schatten des Aberglaubens mit ver-
stärkter Wuth aus ihrem Hinterhalte brachen, um sich
der wehrlosen Seele völlig zu bemächtigen. Jene
Idee von Otto fixirte sich gleichsam künstlich im Ge-

und vollends finden wir ſein Erſtaunen gerecht, als
er einmal beim Weggehen Ottos, welcher Agneſen
wie ſonſt auf der Schwelle die Hand gab, eine Thräne
in ihrem klaren Auge bemerkte. „Was ſoll doch das,
mein Kind?“ fragte der Vater, nachdem ſie allein
waren, betroffen. „Nichts,“ erwiderte ſie mit einigem
Erröthen und drehte ſich zur Seite; „ſein Anblick
rührt mich oft, er gefällt mir nun einmal.“ Dann
ging ſie ſorglos, wie es ſchien, und ſingend in der
Stube auf und nieder.

Vorübergehende Auftritte der Art brachten den
Förſter auf mancherlei Gedanken, und es iſt zu be-
greifen, wenn er es endlich mehr als wahrſcheinlich
fand, daß hinter dieſem unnatürlichen Zuſtande eine
aufkeimende Leidenſchaft für Otto ſich verſtecke, die
er nur einer krankhaften Reizbarkeit des Mädchens
Schuld geben konnte. Der Zeit nach, worein die er-
ſten Beſuche des Vetters und jene erſten grillenhaften
Aeußerungen Agneſens fielen, widerſprach jener
Vermuthung nichts. Der Leſer aber kann über den
wahren Zuſammenhang des wunderlichen Gewebes
wohl nimmer im Zweifel ſeyn.

Der Verſtand des guten Weſens hatte das Gleich-
gewicht verloren, und der traurige Riß war kaum ge-
ſchehen, als die Schatten des Aberglaubens mit ver-
ſtärkter Wuth aus ihrem Hinterhalte brachen, um ſich
der wehrloſen Seele völlig zu bemächtigen. Jene
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[80/0088] und vollends finden wir ſein Erſtaunen gerecht, als er einmal beim Weggehen Ottos, welcher Agneſen wie ſonſt auf der Schwelle die Hand gab, eine Thräne in ihrem klaren Auge bemerkte. „Was ſoll doch das, mein Kind?“ fragte der Vater, nachdem ſie allein waren, betroffen. „Nichts,“ erwiderte ſie mit einigem Erröthen und drehte ſich zur Seite; „ſein Anblick rührt mich oft, er gefällt mir nun einmal.“ Dann ging ſie ſorglos, wie es ſchien, und ſingend in der Stube auf und nieder. Vorübergehende Auftritte der Art brachten den Förſter auf mancherlei Gedanken, und es iſt zu be- greifen, wenn er es endlich mehr als wahrſcheinlich fand, daß hinter dieſem unnatürlichen Zuſtande eine aufkeimende Leidenſchaft für Otto ſich verſtecke, die er nur einer krankhaften Reizbarkeit des Mädchens Schuld geben konnte. Der Zeit nach, worein die er- ſten Beſuche des Vetters und jene erſten grillenhaften Aeußerungen Agneſens fielen, widerſprach jener Vermuthung nichts. Der Leſer aber kann über den wahren Zuſammenhang des wunderlichen Gewebes wohl nimmer im Zweifel ſeyn. Der Verſtand des guten Weſens hatte das Gleich- gewicht verloren, und der traurige Riß war kaum ge- ſchehen, als die Schatten des Aberglaubens mit ver- ſtärkter Wuth aus ihrem Hinterhalte brachen, um ſich der wehrloſen Seele völlig zu bemächtigen. Jene Idee von Otto fixirte ſich gleichſam künſtlich im Ge-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/88>, abgerufen am 18.05.2024.