sich ihrer mit Vernunft zu bemeistern. Er schickte den Bedienten, der ihn auskleiden sollte, zu Bette, und saß eine Weile unschlüssig, den Kopf in die Hand gestüzt, den Blick auf die ruhige Flamme der vor ihm brennenden Kerze geheftet. Erst der Anblick jenes unwillkommenen Briefs (er lag noch uneröffnet auf dem Tische) schien seinem Unmuth, seinem Grame eine entschiedene Gestalt zu geben. "O!" brach er aus, "muß heute sich Alles herzudrängen, mich zu peinigen? soll ich nicht zu mir selbst kommen? Was kann sie wollen mit dem Briefe? muß sie nicht fühlen, wir sind getrennt auf immer, muß sie's nicht? Ja, wenn dieß wirklich der Inhalt dieses Blattes wäre! Könnt' ich's nur ahnen aus den Zügen dieser Aufschrift! Doch, die sind treu und gut, und blicken schmeichelhaft wie in den glücklichen Tagen -- Nein, nein, ich wag' es nicht, dieß Siegel zu erbrechen."
Er stand plötzlich auf und suchte die Gesellschaft des Freundes. Zu seinem Troste traf er ihn noch wach am Kamine sitzend und nicht minder geneigt, die wenigen Stunden bis zum Tagesbruch vollends in vertrautem Gespräche zuzubringen. "Recht, daß du kommst!" hieß es, "du triffst mich mit ernsthaften Be- trachtungen über dich beschäftigt. Es wäre gar schön von dir, wolltest du mich jezt ein wenig tiefer in deine Karten schauen lassen, denn nach dem, was du heute gemunkelt, sollte man ja beinahe glauben, daß deine Erkältung gegen Agnes noch ihre absonderlichen
ſich ihrer mit Vernunft zu bemeiſtern. Er ſchickte den Bedienten, der ihn auskleiden ſollte, zu Bette, und ſaß eine Weile unſchlüſſig, den Kopf in die Hand geſtüzt, den Blick auf die ruhige Flamme der vor ihm brennenden Kerze geheftet. Erſt der Anblick jenes unwillkommenen Briefs (er lag noch uneröffnet auf dem Tiſche) ſchien ſeinem Unmuth, ſeinem Grame eine entſchiedene Geſtalt zu geben. „O!“ brach er aus, „muß heute ſich Alles herzudrängen, mich zu peinigen? ſoll ich nicht zu mir ſelbſt kommen? Was kann ſie wollen mit dem Briefe? muß ſie nicht fühlen, wir ſind getrennt auf immer, muß ſie’s nicht? Ja, wenn dieß wirklich der Inhalt dieſes Blattes wäre! Könnt’ ich’s nur ahnen aus den Zügen dieſer Aufſchrift! Doch, die ſind treu und gut, und blicken ſchmeichelhaft wie in den glücklichen Tagen — Nein, nein, ich wag’ es nicht, dieß Siegel zu erbrechen.“
Er ſtand plötzlich auf und ſuchte die Geſellſchaft des Freundes. Zu ſeinem Troſte traf er ihn noch wach am Kamine ſitzend und nicht minder geneigt, die wenigen Stunden bis zum Tagesbruch vollends in vertrautem Geſpräche zuzubringen. „Recht, daß du kommſt!“ hieß es, „du triffſt mich mit ernſthaften Be- trachtungen über dich beſchäftigt. Es wäre gar ſchön von dir, wollteſt du mich jezt ein wenig tiefer in deine Karten ſchauen laſſen, denn nach dem, was du heute gemunkelt, ſollte man ja beinahe glauben, daß deine Erkältung gegen Agnes noch ihre abſonderlichen
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ſich ihrer mit Vernunft zu bemeiſtern. Er ſchickte
den Bedienten, der ihn auskleiden ſollte, zu Bette,
und ſaß eine Weile unſchlüſſig, den Kopf in die Hand
geſtüzt, den Blick auf die ruhige Flamme der vor
ihm brennenden Kerze geheftet. Erſt der Anblick
jenes unwillkommenen Briefs (er lag noch uneröffnet
auf dem Tiſche) ſchien ſeinem Unmuth, ſeinem Grame
eine entſchiedene Geſtalt zu geben. „O!“ brach er aus,
„muß heute ſich Alles herzudrängen, mich zu peinigen?
ſoll ich nicht zu mir ſelbſt kommen? Was kann ſie
wollen mit dem Briefe? muß ſie nicht fühlen, wir
ſind getrennt auf immer, muß ſie’s nicht? Ja, wenn
dieß wirklich der Inhalt dieſes Blattes wäre! Könnt’
ich’s nur ahnen aus den Zügen dieſer Aufſchrift!
Doch, die ſind treu und gut, und blicken ſchmeichelhaft
wie in den glücklichen Tagen — Nein, nein, ich wag’
es nicht, dieß Siegel zu erbrechen.“
Er ſtand plötzlich auf und ſuchte die Geſellſchaft
des Freundes. Zu ſeinem Troſte traf er ihn noch
wach am Kamine ſitzend und nicht minder geneigt,
die wenigen Stunden bis zum Tagesbruch vollends in
vertrautem Geſpräche zuzubringen. „Recht, daß du
kommſt!“ hieß es, „du triffſt mich mit ernſthaften Be-
trachtungen über dich beſchäftigt. Es wäre gar ſchön
von dir, wollteſt du mich jezt ein wenig tiefer in
deine Karten ſchauen laſſen, denn nach dem, was du
heute gemunkelt, ſollte man ja beinahe glauben, daß
deine Erkältung gegen Agnes noch ihre abſonderlichen
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/61>, abgerufen am 24.11.2024.
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