Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

mich der Freiheit auf meinem guten Pferde, ich wickle
mich mit kindischem Vergnügen in mein Mäntelchen
gegen die rauhe Luft, die da auf uns zustreicht, und
halte mir das sichre Herze warm und wiege mich in
meinen Gedanken. Aber nicht wahr, als wir noch in
Rißthal wohnten, da war es ein Anderes, auszureiten?
Enges Thal, dichter Wald, wohin man immer sah. Hier
das platte Feld und lauter Fruchtbaum. Wir haben
anderthalb gute Stunden, bis es ein wenig krauser
hergeht. Glücklich, daß wir wenigstens die Landstraße
nicht brauchen."

Beide Geschwister durchliefen jezt in unerschöpflichen
Gesprächen die Lichtpunkte ihres früheren Lebens in
Rißthal, einem dürftigen Orte, wo der Vater zwölf
Jahre lang Pfarrer gewesen. Sie begegneten sich mit
der innigsten Freude bei so mancher angenehmen, kaum
noch in schwachen Anklängen vorhandenen Erinnerung,
es wagten sich nach und nach gegenseitige Worte der
Rührung und Frömmigkeit über die Lippen, wie sie
sonst, von einer Art falscher Schaam bewacht, zwischen
jungen Leuten nicht gewechselt werden.

Endlich sagte der Bruder: "Indem wir da so offen-
herzig plaudern, läßt mich's nicht ruhen, dir zu geste-
hen, daß ich doch Ein Geheimniß auch vor dir habe,
Adelheid! Es ist nichts Verdächtiges, nichts, was
ich verheimlichen müßte, eine Grille hat mich bisher
abgehalten, dir es mitzutheilen. Aber heute sollst du
es hören, und zwar unter den Mauern des alten

mich der Freiheit auf meinem guten Pferde, ich wickle
mich mit kindiſchem Vergnügen in mein Mäntelchen
gegen die rauhe Luft, die da auf uns zuſtreicht, und
halte mir das ſichre Herze warm und wiege mich in
meinen Gedanken. Aber nicht wahr, als wir noch in
Rißthal wohnten, da war es ein Anderes, auszureiten?
Enges Thal, dichter Wald, wohin man immer ſah. Hier
das platte Feld und lauter Fruchtbaum. Wir haben
anderthalb gute Stunden, bis es ein wenig krauſer
hergeht. Glücklich, daß wir wenigſtens die Landſtraße
nicht brauchen.“

Beide Geſchwiſter durchliefen jezt in unerſchöpflichen
Geſprächen die Lichtpunkte ihres früheren Lebens in
Rißthal, einem dürftigen Orte, wo der Vater zwölf
Jahre lang Pfarrer geweſen. Sie begegneten ſich mit
der innigſten Freude bei ſo mancher angenehmen, kaum
noch in ſchwachen Anklängen vorhandenen Erinnerung,
es wagten ſich nach und nach gegenſeitige Worte der
Rührung und Frömmigkeit über die Lippen, wie ſie
ſonſt, von einer Art falſcher Schaam bewacht, zwiſchen
jungen Leuten nicht gewechſelt werden.

Endlich ſagte der Bruder: „Indem wir da ſo offen-
herzig plaudern, läßt mich’s nicht ruhen, dir zu geſte-
hen, daß ich doch Ein Geheimniß auch vor dir habe,
Adelheid! Es iſt nichts Verdächtiges, nichts, was
ich verheimlichen müßte, eine Grille hat mich bisher
abgehalten, dir es mitzutheilen. Aber heute ſollſt du
es hören, und zwar unter den Mauern des alten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0289" n="281"/>
mich der Freiheit auf meinem guten Pferde, ich wickle<lb/>
mich mit kindi&#x017F;chem Vergnügen in mein Mäntelchen<lb/>
gegen die rauhe Luft, die da auf uns zu&#x017F;treicht, und<lb/>
halte mir das &#x017F;ichre Herze warm und wiege mich in<lb/>
meinen Gedanken. Aber nicht wahr, als wir noch in<lb/>
Rißthal wohnten, da war es ein Anderes, auszureiten?<lb/>
Enges Thal, dichter Wald, wohin man immer &#x017F;ah. Hier<lb/>
das platte Feld und lauter Fruchtbaum. Wir haben<lb/>
anderthalb gute Stunden, bis es ein wenig krau&#x017F;er<lb/>
hergeht. Glücklich, daß wir wenig&#x017F;tens die Land&#x017F;traße<lb/>
nicht brauchen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Beide Ge&#x017F;chwi&#x017F;ter durchliefen jezt in uner&#x017F;chöpflichen<lb/>
Ge&#x017F;prächen die Lichtpunkte ihres früheren Lebens in<lb/>
Rißthal, einem dürftigen Orte, wo der Vater zwölf<lb/>
Jahre lang Pfarrer gewe&#x017F;en. Sie begegneten &#x017F;ich mit<lb/>
der innig&#x017F;ten Freude bei &#x017F;o mancher angenehmen, kaum<lb/>
noch in &#x017F;chwachen Anklängen vorhandenen Erinnerung,<lb/>
es wagten &#x017F;ich nach und nach gegen&#x017F;eitige Worte der<lb/>
Rührung und Frömmigkeit über die Lippen, wie &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t, von einer Art fal&#x017F;cher Schaam bewacht, zwi&#x017F;chen<lb/>
jungen Leuten nicht gewech&#x017F;elt werden.</p><lb/>
          <p>Endlich &#x017F;agte der Bruder: &#x201E;Indem wir da &#x017F;o offen-<lb/>
herzig plaudern, läßt mich&#x2019;s nicht ruhen, dir zu ge&#x017F;te-<lb/>
hen, daß ich doch Ein Geheimniß auch vor dir habe,<lb/><hi rendition="#g">Adelheid</hi>! Es i&#x017F;t nichts Verdächtiges, nichts, was<lb/>
ich verheimlichen müßte, eine Grille hat mich bisher<lb/>
abgehalten, dir es mitzutheilen. Aber heute &#x017F;oll&#x017F;t du<lb/>
es hören, und zwar unter den Mauern des alten<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[281/0289] mich der Freiheit auf meinem guten Pferde, ich wickle mich mit kindiſchem Vergnügen in mein Mäntelchen gegen die rauhe Luft, die da auf uns zuſtreicht, und halte mir das ſichre Herze warm und wiege mich in meinen Gedanken. Aber nicht wahr, als wir noch in Rißthal wohnten, da war es ein Anderes, auszureiten? Enges Thal, dichter Wald, wohin man immer ſah. Hier das platte Feld und lauter Fruchtbaum. Wir haben anderthalb gute Stunden, bis es ein wenig krauſer hergeht. Glücklich, daß wir wenigſtens die Landſtraße nicht brauchen.“ Beide Geſchwiſter durchliefen jezt in unerſchöpflichen Geſprächen die Lichtpunkte ihres früheren Lebens in Rißthal, einem dürftigen Orte, wo der Vater zwölf Jahre lang Pfarrer geweſen. Sie begegneten ſich mit der innigſten Freude bei ſo mancher angenehmen, kaum noch in ſchwachen Anklängen vorhandenen Erinnerung, es wagten ſich nach und nach gegenſeitige Worte der Rührung und Frömmigkeit über die Lippen, wie ſie ſonſt, von einer Art falſcher Schaam bewacht, zwiſchen jungen Leuten nicht gewechſelt werden. Endlich ſagte der Bruder: „Indem wir da ſo offen- herzig plaudern, läßt mich’s nicht ruhen, dir zu geſte- hen, daß ich doch Ein Geheimniß auch vor dir habe, Adelheid! Es iſt nichts Verdächtiges, nichts, was ich verheimlichen müßte, eine Grille hat mich bisher abgehalten, dir es mitzutheilen. Aber heute ſollſt du es hören, und zwar unter den Mauern des alten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/289
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/289>, abgerufen am 25.11.2024.