Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763.
Hier beschloß er; und was er gesagt, so voll von Betruge, 770Fand zu leicht nur den Weg in Evens verblendete Seele. 760Sie beschaute die Frucht mit starrem Auge; das Anschaun Konnt allein schon versuchen; in ihrem bezauberten Ohre Klang ihr noch immer der Schall von seinen beredenden Worten, Welche, so wie es sie dünkte, Vernunft und Wahrheit bestärkte. Mittlerweile nahete sich die Stunde des Mittags [Spaltenumbruch] m), 765Und erweckte den schärfesten Hunger, vom süßen Geruche Dieser Frucht noch vermehrt; mit einem mächtgen Verlangen Ward ihr lüsternes Aug entflammt; die Begierde zu pflücken Und zu essen stieg itzund am höchsten; doch machte sie erstlich Eine Paus', und sagte bey sich die murmelnden Worte. Groß, unstreitig, sind sie, o du, du beste der Pflanzen, Deine Tugenden; wunderbar sind sie, obgleich du den Menschen Untersagt bist; indem dein Genuß, zu lang uns verbothen, Schon m) Diesen Umstand hat der Poet mit vieler Kunst hinzugedichtet, um die Thor- heit und das Verbrechen unsrer ersten [Spaltenumbruch] Stammutter etwas dadurch zu mildern. N. N 2
Hier beſchloß er; und was er geſagt, ſo voll von Betruge, 770Fand zu leicht nur den Weg in Evens verblendete Seele. 760Sie beſchaute die Frucht mit ſtarrem Auge; das Anſchaun Konnt allein ſchon verſuchen; in ihrem bezauberten Ohre Klang ihr noch immer der Schall von ſeinen beredenden Worten, Welche, ſo wie es ſie duͤnkte, Vernunft und Wahrheit beſtaͤrkte. Mittlerweile nahete ſich die Stunde des Mittags [Spaltenumbruch] m), 765Und erweckte den ſchaͤrfeſten Hunger, vom ſuͤßen Geruche Dieſer Frucht noch vermehrt; mit einem maͤchtgen Verlangen Ward ihr luͤſternes Aug entflammt; die Begierde zu pfluͤcken Und zu eſſen ſtieg itzund am hoͤchſten; doch machte ſie erſtlich Eine Pauſ’, und ſagte bey ſich die murmelnden Worte. Groß, unſtreitig, ſind ſie, o du, du beſte der Pflanzen, Deine Tugenden; wunderbar ſind ſie, obgleich du den Menſchen Unterſagt biſt; indem dein Genuß, zu lang uns verbothen, Schon m) Dieſen Umſtand hat der Poet mit vieler Kunſt hinzugedichtet, um die Thor- heit und das Verbrechen unſrer erſten [Spaltenumbruch] Stammutter etwas dadurch zu mildern. N. N 2
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Neunter Geſang.
Dieſer Baum, wofern ers nicht will, fuͤr Vortheil euch ſchenken?
Oder iſt es denn Neid? und kann in himmliſchen Seelen
Neid wohl wohnen? Nein, dieß, dieß, und noch ſtaͤrkere Gruͤnde
Zeigen zu deutlich, wie ſehr ihr dieſes herrlichen Baumes
Noͤthig habet zu eurer Erhoͤhung. O menſchliche Goͤttinn,
Strecke den Arm aus, und iß nur beherzt nach deinem Gefallen.
Hier beſchloß er; und was er geſagt, ſo voll von Betruge,
Fand zu leicht nur den Weg in Evens verblendete Seele.
Sie beſchaute die Frucht mit ſtarrem Auge; das Anſchaun
Konnt allein ſchon verſuchen; in ihrem bezauberten Ohre
Klang ihr noch immer der Schall von ſeinen beredenden Worten,
Welche, ſo wie es ſie duͤnkte, Vernunft und Wahrheit beſtaͤrkte.
Mittlerweile nahete ſich die Stunde des Mittags
m),
Und erweckte den ſchaͤrfeſten Hunger, vom ſuͤßen Geruche
Dieſer Frucht noch vermehrt; mit einem maͤchtgen Verlangen
Ward ihr luͤſternes Aug entflammt; die Begierde zu pfluͤcken
Und zu eſſen ſtieg itzund am hoͤchſten; doch machte ſie erſtlich
Eine Pauſ’, und ſagte bey ſich die murmelnden Worte.
Groß, unſtreitig, ſind ſie, o du, du beſte der Pflanzen,
Deine Tugenden; wunderbar ſind ſie, obgleich du den Menſchen
Unterſagt biſt; indem dein Genuß, zu lang uns verbothen,
Schon
m) Dieſen Umſtand hat der Poet mit
vieler Kunſt hinzugedichtet, um die Thor-
heit und das Verbrechen unſrer erſten
Stammutter etwas dadurch zu mildern.
N.
N 2
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