Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760.

Bild:
<< vorherige Seite

Vierter Gesang.
Sie trug ihr güldenes Haar q), gleich einem wallenden Schleyer,
305Fliegend, und ungeziert, zu den schlanken Hüften herunter,
Jn viel spielende Ringe gekräust, wie die Gabeln des Weinstocks,
Unterwerfung bezeichnend, mit sanftem Befehle gefordert,
Von ihr gegeben, und liebreich von ihm empfangen; mit spröder
Demuth von ihr gegeben, und einem bescheidenen Stolze,
310Und mit weigerndem süßen verliebten Zögern begleitet.
Damals waren noch nicht die geheimen Glieder verborgen,
Keine schuldige Schaam, unehrbare Schaam nicht, war damals
Ueber natürliche Dinge bekannt, noch entehrende Ehre.
Jhr Geburten der Sünde, wie habt ihr das Menschengeschlechte
315Mit der Reinigkeit Schein, dem bloßen Scheine, verwirret,
Und vom Leben des Menschen sein glücklichstes Leben verbannet,
Unbefleckte Unschuld, und Einfalt. -- So giengen sie nackend,
Ohne sich vor dem Anblick von Gott, oder Engeln, zu scheuen;
Denn sie dachten nichts übels, und wandelten also voll Unschuld
320Hand in Hand, das lieblichste Paar, das nachher sich jemals
[Spaltenumbruch]

Mit
Und sie ließ ihm Locken von hyacin-
thener Farbe von der Scheitel ent-
fließen --
Eustathius erklärt hyaeinthene Lo-
cken, durch schwarze Haare, und
Svidas durch sehr dunkelbraune. Mil-
ton meynt gleichfalls dadurch schwar-
ze oder braune Haare. Es ist wahr-
scheinlich, daß der Hyacinth bey den
Alten von dunklerer Farbe gewesen,
als bey uns. N.
q) Die Alten hielten diese Art von
Haaren für die schönste, und sie wur-
[Spaltenumbruch] de am meisten von ihnen bewundert,
vielleicht weil oft eine sehr feine Haut
dabey ist, und eine fanfte Gemüths-
art dadurch vorausgesetzt wird. So
wie Milton in andern Dingen den
Geschmack der Alten hatte, so hatte
er ihn auch hierinn. Er hat viel-
leicht auch hiedurch seiner Frau eine
Schmeicheley machen wollen, die er
in der Beschreibung der Eva vor Au-
gen gehabt, so wie er in der Beschrei-
bung Adams auf seine eigne Person
gesehen, von der er keine geringe Mey-
nung gehaht. N.
T 3

Vierter Geſang.
Sie trug ihr guͤldenes Haar q), gleich einem wallenden Schleyer,
305Fliegend, und ungeziert, zu den ſchlanken Huͤften herunter,
Jn viel ſpielende Ringe gekraͤuſt, wie die Gabeln des Weinſtocks,
Unterwerfung bezeichnend, mit ſanftem Befehle gefordert,
Von ihr gegeben, und liebreich von ihm empfangen; mit ſproͤder
Demuth von ihr gegeben, und einem beſcheidenen Stolze,
310Und mit weigerndem ſuͤßen verliebten Zoͤgern begleitet.
Damals waren noch nicht die geheimen Glieder verborgen,
Keine ſchuldige Schaam, unehrbare Schaam nicht, war damals
Ueber natuͤrliche Dinge bekannt, noch entehrende Ehre.
Jhr Geburten der Suͤnde, wie habt ihr das Menſchengeſchlechte
315Mit der Reinigkeit Schein, dem bloßen Scheine, verwirret,
Und vom Leben des Menſchen ſein gluͤcklichſtes Leben verbannet,
Unbefleckte Unſchuld, und Einfalt. — So giengen ſie nackend,
Ohne ſich vor dem Anblick von Gott, oder Engeln, zu ſcheuen;
Denn ſie dachten nichts uͤbels, und wandelten alſo voll Unſchuld
320Hand in Hand, das lieblichſte Paar, das nachher ſich jemals
[Spaltenumbruch]

Mit
Und ſie ließ ihm Locken von hyacin-
thener Farbe von der Scheitel ent-
fließen —
Euſtathius erklaͤrt hyaeinthene Lo-
cken, durch ſchwarze Haare, und
Svidas durch ſehr dunkelbraune. Mil-
ton meynt gleichfalls dadurch ſchwar-
ze oder braune Haare. Es iſt wahr-
ſcheinlich, daß der Hyacinth bey den
Alten von dunklerer Farbe geweſen,
als bey uns. N.
q) Die Alten hielten dieſe Art von
Haaren fuͤr die ſchoͤnſte, und ſie wur-
[Spaltenumbruch] de am meiſten von ihnen bewundert,
vielleicht weil oft eine ſehr feine Haut
dabey iſt, und eine fanfte Gemuͤths-
art dadurch vorausgeſetzt wird. So
wie Milton in andern Dingen den
Geſchmack der Alten hatte, ſo hatte
er ihn auch hierinn. Er hat viel-
leicht auch hiedurch ſeiner Frau eine
Schmeicheley machen wollen, die er
in der Beſchreibung der Eva vor Au-
gen gehabt, ſo wie er in der Beſchrei-
bung Adams auf ſeine eigne Perſon
geſehen, von der er keine geringe Mey-
nung gehaht. N.
T 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <lg n="5">
            <pb facs="#f0169" n="149"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Vierter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw><lb/>
            <l>Sie trug ihr gu&#x0364;ldenes Haar <note place="foot" n="q)">Die Alten hielten die&#x017F;e Art von<lb/>
Haaren fu&#x0364;r die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te, und &#x017F;ie wur-<lb/><cb/>
de am mei&#x017F;ten von ihnen bewundert,<lb/>
vielleicht weil oft eine &#x017F;ehr feine Haut<lb/>
dabey i&#x017F;t, und eine fanfte Gemu&#x0364;ths-<lb/>
art dadurch vorausge&#x017F;etzt wird. So<lb/>
wie Milton in andern Dingen den<lb/>
Ge&#x017F;chmack der Alten hatte, &#x017F;o hatte<lb/>
er ihn auch hierinn. Er hat viel-<lb/>
leicht auch hiedurch &#x017F;einer Frau eine<lb/>
Schmeicheley machen wollen, die er<lb/>
in der Be&#x017F;chreibung der Eva vor Au-<lb/>
gen gehabt, &#x017F;o wie er in der Be&#x017F;chrei-<lb/>
bung Adams auf &#x017F;eine eigne Per&#x017F;on<lb/>
ge&#x017F;ehen, von der er keine geringe Mey-<lb/>
nung gehaht. <hi rendition="#fr">N.</hi></note>, gleich einem wallenden Schleyer,</l><lb/>
            <l><note place="left">305</note>Fliegend, und ungeziert, zu den &#x017F;chlanken Hu&#x0364;ften herunter,</l><lb/>
            <l>Jn viel &#x017F;pielende Ringe gekra&#x0364;u&#x017F;t, wie die Gabeln des Wein&#x017F;tocks,</l><lb/>
            <l>Unterwerfung bezeichnend, mit &#x017F;anftem Befehle gefordert,</l><lb/>
            <l>Von ihr gegeben, und liebreich von ihm empfangen; mit &#x017F;pro&#x0364;der</l><lb/>
            <l>Demuth von ihr gegeben, und einem be&#x017F;cheidenen Stolze,</l><lb/>
            <l><note place="left">310</note>Und mit weigerndem &#x017F;u&#x0364;ßen verliebten Zo&#x0364;gern begleitet.</l><lb/>
            <l>Damals waren noch nicht die geheimen Glieder verborgen,</l><lb/>
            <l>Keine &#x017F;chuldige Schaam, unehrbare Schaam nicht, war damals</l><lb/>
            <l>Ueber natu&#x0364;rliche Dinge bekannt, noch entehrende Ehre.</l><lb/>
            <l>Jhr Geburten der Su&#x0364;nde, wie habt ihr das Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechte</l><lb/>
            <l><note place="left">315</note>Mit der Reinigkeit Schein, dem bloßen Scheine, verwirret,</l><lb/>
            <l>Und vom Leben des Men&#x017F;chen &#x017F;ein glu&#x0364;cklich&#x017F;tes Leben verbannet,</l><lb/>
            <l>Unbefleckte Un&#x017F;chuld, und Einfalt. &#x2014; So giengen &#x017F;ie nackend,</l><lb/>
            <l>Ohne &#x017F;ich vor dem Anblick von Gott, oder Engeln, zu &#x017F;cheuen;</l><lb/>
            <l>Denn &#x017F;ie dachten nichts u&#x0364;bels, und wandelten al&#x017F;o voll Un&#x017F;chuld</l><lb/>
            <l><note place="left">320</note>Hand in Hand, das lieblich&#x017F;te Paar, das nachher &#x017F;ich jemals</l><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">T 3</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">Mit</fw><lb/>
            <cb/>
            <note xml:id="a25" prev="#a24" place="foot" n="p)">Und &#x017F;ie ließ ihm Locken von hyacin-<lb/>
thener Farbe von der Scheitel ent-<lb/>
fließen &#x2014;<lb/>
Eu&#x017F;tathius erkla&#x0364;rt hyaeinthene Lo-<lb/>
cken, durch &#x017F;chwarze Haare, und<lb/>
Svidas durch &#x017F;ehr dunkelbraune. Mil-<lb/>
ton meynt gleichfalls dadurch &#x017F;chwar-<lb/>
ze oder braune Haare. Es i&#x017F;t wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlich, daß der Hyacinth bey den<lb/>
Alten von dunklerer Farbe gewe&#x017F;en,<lb/>
als bey uns. <hi rendition="#fr">N.</hi></note><lb/>
          </lg>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[149/0169] Vierter Geſang. Sie trug ihr guͤldenes Haar q), gleich einem wallenden Schleyer, Fliegend, und ungeziert, zu den ſchlanken Huͤften herunter, Jn viel ſpielende Ringe gekraͤuſt, wie die Gabeln des Weinſtocks, Unterwerfung bezeichnend, mit ſanftem Befehle gefordert, Von ihr gegeben, und liebreich von ihm empfangen; mit ſproͤder Demuth von ihr gegeben, und einem beſcheidenen Stolze, Und mit weigerndem ſuͤßen verliebten Zoͤgern begleitet. Damals waren noch nicht die geheimen Glieder verborgen, Keine ſchuldige Schaam, unehrbare Schaam nicht, war damals Ueber natuͤrliche Dinge bekannt, noch entehrende Ehre. Jhr Geburten der Suͤnde, wie habt ihr das Menſchengeſchlechte Mit der Reinigkeit Schein, dem bloßen Scheine, verwirret, Und vom Leben des Menſchen ſein gluͤcklichſtes Leben verbannet, Unbefleckte Unſchuld, und Einfalt. — So giengen ſie nackend, Ohne ſich vor dem Anblick von Gott, oder Engeln, zu ſcheuen; Denn ſie dachten nichts uͤbels, und wandelten alſo voll Unſchuld Hand in Hand, das lieblichſte Paar, das nachher ſich jemals Mit p) q) Die Alten hielten dieſe Art von Haaren fuͤr die ſchoͤnſte, und ſie wur- de am meiſten von ihnen bewundert, vielleicht weil oft eine ſehr feine Haut dabey iſt, und eine fanfte Gemuͤths- art dadurch vorausgeſetzt wird. So wie Milton in andern Dingen den Geſchmack der Alten hatte, ſo hatte er ihn auch hierinn. Er hat viel- leicht auch hiedurch ſeiner Frau eine Schmeicheley machen wollen, die er in der Beſchreibung der Eva vor Au- gen gehabt, ſo wie er in der Beſchrei- bung Adams auf ſeine eigne Perſon geſehen, von der er keine geringe Mey- nung gehaht. N. p) Und ſie ließ ihm Locken von hyacin- thener Farbe von der Scheitel ent- fließen — Euſtathius erklaͤrt hyaeinthene Lo- cken, durch ſchwarze Haare, und Svidas durch ſehr dunkelbraune. Mil- ton meynt gleichfalls dadurch ſchwar- ze oder braune Haare. Es iſt wahr- ſcheinlich, daß der Hyacinth bey den Alten von dunklerer Farbe geweſen, als bey uns. N. T 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760/169
Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760/169>, abgerufen am 23.11.2024.