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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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sen fortwährenden Kämpfen, und der unaufhörli-
chen Arbeit ihrer Seele zehrte sich ihr Leben ab;
ihre Säfte vertrockneten, wie ein Quell in der
Sonnenhitze; sie ward täglich schwächer, und muß-
te oft auf ihrer Zelle bleiben. Oft schrieb sie gan-
ze Stunden lang, muste dann, wegen ihrer häufig
fliessenden Thränen aufhören, und schloß das Pa-
pier ein. Alle Wochen sprach sie zweymal mit ih-
rer Mutter und andern Verwandten am Sprach-
gitter. Jhre Mutter suchte sie mit Thränen zu
bereden, wieder in die Welt zurückzukehren, aber
alle Thränen und Bitten halfen nichts. Endlich
ward sie ganz bettlägerig; Cäcilia war beständig
um sie. Einst, in einer schlaflosen Nacht, erzählte
ihr Sophie ihre ganze Geschichte, und die Liebe zu
Siegwart. Aber, sagte sie, verschleuß mein Ver-
trauen in dich, und nimms ins Grab mit! Belei-
dige deine todte Freundin nicht durch Untreue!
Sonst können wir uns im Himmel nicht mit Freu-
den entgegen gehn. Hier hab ich ein versiegeltes
Packet an Siegwart. Gibs meiner Mutter, wenn
ich todt bin, daß sies ihm einhändige! Dank ihr
in meinem Namen tausendmal für ihre Liebe, und
meinem Vater auch! Küß ihre Hand, wie ich die
deinige küsse; eben so heiß und brünstig! Sag ihr,



ſen fortwaͤhrenden Kaͤmpfen, und der unaufhoͤrli-
chen Arbeit ihrer Seele zehrte ſich ihr Leben ab;
ihre Saͤfte vertrockneten, wie ein Quell in der
Sonnenhitze; ſie ward taͤglich ſchwaͤcher, und muß-
te oft auf ihrer Zelle bleiben. Oft ſchrieb ſie gan-
ze Stunden lang, muſte dann, wegen ihrer haͤufig
flieſſenden Thraͤnen aufhoͤren, und ſchloß das Pa-
pier ein. Alle Wochen ſprach ſie zweymal mit ih-
rer Mutter und andern Verwandten am Sprach-
gitter. Jhre Mutter ſuchte ſie mit Thraͤnen zu
bereden, wieder in die Welt zuruͤckzukehren, aber
alle Thraͤnen und Bitten halfen nichts. Endlich
ward ſie ganz bettlaͤgerig; Caͤcilia war beſtaͤndig
um ſie. Einſt, in einer ſchlafloſen Nacht, erzaͤhlte
ihr Sophie ihre ganze Geſchichte, und die Liebe zu
Siegwart. Aber, ſagte ſie, verſchleuß mein Ver-
trauen in dich, und nimms ins Grab mit! Belei-
dige deine todte Freundin nicht durch Untreue!
Sonſt koͤnnen wir uns im Himmel nicht mit Freu-
den entgegen gehn. Hier hab ich ein verſiegeltes
Packet an Siegwart. Gibs meiner Mutter, wenn
ich todt bin, daß ſies ihm einhaͤndige! Dank ihr
in meinem Namen tauſendmal fuͤr ihre Liebe, und
meinem Vater auch! Kuͤß ihre Hand, wie ich die
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[517/0097] ſen fortwaͤhrenden Kaͤmpfen, und der unaufhoͤrli- chen Arbeit ihrer Seele zehrte ſich ihr Leben ab; ihre Saͤfte vertrockneten, wie ein Quell in der Sonnenhitze; ſie ward taͤglich ſchwaͤcher, und muß- te oft auf ihrer Zelle bleiben. Oft ſchrieb ſie gan- ze Stunden lang, muſte dann, wegen ihrer haͤufig flieſſenden Thraͤnen aufhoͤren, und ſchloß das Pa- pier ein. Alle Wochen ſprach ſie zweymal mit ih- rer Mutter und andern Verwandten am Sprach- gitter. Jhre Mutter ſuchte ſie mit Thraͤnen zu bereden, wieder in die Welt zuruͤckzukehren, aber alle Thraͤnen und Bitten halfen nichts. Endlich ward ſie ganz bettlaͤgerig; Caͤcilia war beſtaͤndig um ſie. Einſt, in einer ſchlafloſen Nacht, erzaͤhlte ihr Sophie ihre ganze Geſchichte, und die Liebe zu Siegwart. Aber, ſagte ſie, verſchleuß mein Ver- trauen in dich, und nimms ins Grab mit! Belei- dige deine todte Freundin nicht durch Untreue! Sonſt koͤnnen wir uns im Himmel nicht mit Freu- den entgegen gehn. Hier hab ich ein verſiegeltes Packet an Siegwart. Gibs meiner Mutter, wenn ich todt bin, daß ſies ihm einhaͤndige! Dank ihr in meinem Namen tauſendmal fuͤr ihre Liebe, und meinem Vater auch! Kuͤß ihre Hand, wie ich die deinige kuͤſſe; eben ſo heiß und bruͤnſtig! Sag ihr,

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/97>, abgerufen am 21.11.2024.